— Es macht die Leute durchaus angenehm, wenn sie bloß zugucken, Bentham winkte dem Kellner, der die Gläser füllte. — Außer für diejenigen, die sie lieben, fügte Bentham hinzu und trank.
— Was machen Sie, wenn Sie für ein paar Tage nicht ins Büro kommen? fragte Jakob.
Bentham sah ihn überrascht an. Jakob spürte, daß er rot wurde.
— Und jetzt werden Sie rot, das ist nett. Fragen Sie nur. Ich gehe in ein kleines Hotel, nicht immer dasselbe, aber meistens. Ein kleines Hotel, das man zwielichtig nennen würde, wenn es nicht so überaus zivilisiert und gepflegt wäre, mit guten Zimmern und einem guten Service. Eine gewisse Anzahl junger Männer geht dort ein und aus, um sich etwas Geld zu verdienen. Ich habe nichts dagegen, für Liebesdienste zu zahlen — das ist eine Frage des Alters, und die jungen Männer, die dort Zutritt haben, sind, nun, handverlesen, Studenten meistens, gebildet, wohlerzogen. Nicht fürchterlich jung zudem, eben jung. Man sieht sich in der Lobby, verabredet sich eventuell zum Abendessen oder in die Oper und beendet den Abend auf die eine oder andere Weise. Eine sehr sinnvolle Einrichtung. Sie sind dafür zu jung, oder zu alt, wie man es nimmt. Sonst sollte ich es Ihnen vielleicht empfehlen.
— Ich bin ja verheiratet, antwortete Jakob töricht.
— Man soll in diesen Dingen gewissenhaft sein, Sie haben ganz recht, allerdings auch nicht allzu streng. Übrigens verbringe ich dort oft ein paar Tage, um der Leere meines Hauses zu entgehen. Die Gegenstände, an denen sich die Vergangenheit ablesen läßt — man erträgt sie nicht immer. Zwei Männer betraten das Pub, grüßten Bentham, blieben an der Theke stehen.
— Kollegen, merkte Bentham an. Er wiegte den Kopf, als wollte er sich mit seinem Gewicht vertraut machen, die Beschaffenheit der Sätze prüfen, abwägen, was sie für Jakob bedeuteten, dachte Jakob und wurde wieder traurig, weil er wußte, daß es die erste Rate auf den Abschied war. Er wurde in seine Schranken gewiesen, spürte es physisch, und wußte, daß er weder Ausweispapiere hatte noch die Kraft, sich über jene Schranke hinwegzusetzen. — Es kommt nicht darauf an, sagte Bentham, bei welchem Namen man es nennt, Charakter, Unvermögen, Schicksal — Begrenztheiten gibt es immer. Nur, was wollen Sie damit, was machen Sie daraus? Es bleibt ja Ihr Leben. Bentham lächelte. Wenn Graham fand, ich sei allzu melancholisch, erinnerte er mich daran, daß Vergnügtheit eine zivilisatorische Errungenschaft ist. Wieder schien er sich umstandslos in Jakobs Gedanken auszukennen, brummte etwas, das auf Nachsicht hindeutete. — Mit mir sollen Sie jedenfalls nicht ringen, der Engel bin ich ja nicht. Seine Arme, eingezwängt in den Ärmeln des Jacketts, die kurzen, beweglichen Hände lagen jetzt ruhig auf dem Tisch zwischen ihnen, und Jakob nickte dankbar, hob endlich die Augen und fand Benthams Blick. Er spürte die Sekunden langsam verstreichen, als wäre auf seinem Herz ein Sekundenzeiger angebracht, jede einzelne eine winzige Bewegung des Erinnerns, vorweggenommen, aufbewahrt und endlich ohne Furcht, sie könnten sich mißverstehen. Er fühlte, daß er noch einmal errötete, wußte, daß diesmal Bentham nichts dazu sagen würde, bemerkte auch, daß er anfing zu zittern, alle Kräfte anspannte, ihm war, als würde er wie ein Handschuh von innen nach außen gestülpt. Aber wie geht es weiter, wie werde ich es ertragen, dachte er, und wie leicht es mit Isabelle war, wo die vorgezeichneten Schritte das Geständnis von Liebe ersetzt hatten.
Es waren bis zur Kanzlei nicht mehr als fünf Minuten, Maude öffnete ihm die Tür, er nahm Isabelles und Alistairs Nachricht entgegen, lief kurz hinauf in sein Büro, die Schlüssel und einen Pullover zu holen, und da er sich unfähig fand, die angegebene Adresse aus eigener Kraft zu erreichen, hielt er ein Taxi an. Ausgestiegen, sah er nach wenigen Schritten schon Isabelle und fand seine Befürchtung, daß er ihr kühl entgegentreten könnte, widerlegt. Sie kam auf ihn zugesprungen und fiel in seine Arme, und er hielt sie gerne fest . Bengal’s Secret , das Restaurant, in dem Alistair sie erwartete, war nicht weit, und dankbar registrierte er, daß Alistair die Führung übernahm, bestellte, ihn ohne viel Fragerei essen ließ, er sah, daß Alistair seinerseits müde war.
Sie ging kaum aus dem Haus, sie schien die meiste Zeit zu arbeiten, traf keine Verabredung mit Alistair, mochte abends nicht ausgehen, es war, als wollte sie auf Jakob Rücksicht nehmen, denn er ging früh zu Bett, auch wenn er lange nicht einschlief, von unten hörte er manchmal eine Tür oder ein Fenster, das nach oben oder unten geschoben wurde; er war froh über Isabelles Anwesenheit, froh alleine zu liegen. Aus Feigheit hatte er, als Alistair vor Isabelle kniete, den Kopf zwischen ihren Schenkeln, ihm signalisiert zu gehen, sie hatten sich an der Tür mit einem Kuß verabschiedet, Alistair hatte beruhigend und zärtlich Jakobs Haar gestreichelt, jetzt bereute Jakob, daß er ihn fortgeschickt hatte. Mittags war Alistair einmal in sein Büro gekommen, hatte sich auf die Truhe gesetzt, einen Taschenspiegel aus dem Jackett gezogen und sich aufmerksam darin betrachtet. Dann war er zu Jakob getreten, der am Schreibtisch saß, und hatte ihn auf die Haare geküßt und umarmt. — So hübsch, hatte er gesagt, sind wir beide nicht mehr; er hatte gebrummelt, Bentham imitiert, Jakobs Schläfe gestreichelt und war wieder gegangen. Bentham kam nicht in die Kanzlei, Maude kommentierte es genausowenig wie sonst, um Bentham schien sie sich diesmal nicht zu sorgen, Jakob aber brachte sie manchmal ein Stück Kuchen oder Obst oder eine Tasse Tee ins Zimmer. Tagsüber war zuviel zu tun, als daß er Zeit zum Grübeln gehabt hätte. Eine englische Investitionsgesellschaft interessierte sich für den Ankauf mehrerer Wohnblöcke im nördlichen Prenzlauer Berg. Die Gleise der zum Verkauf stehenden Eisenbahngesellschaft waren in desolatem Zustand. Millers Fall entwickelte sich gut, er war bei Sahar gewesen und berichtete, sie habe ihm geweissagt, daß er etwas, das mit Wasser zu tun habe, verlieren werde — das Seegrundstück folglich, und so schlug er selbst eine Entschädigung vor, eine Summe, die dem Gegner akzeptabel schien und groß genug war, die Villa in Treptow zu renovieren. — Bentham findet das sinnlos, ich weiß, sagte Miller. Ich bin zu alt, nach Berlin zu ziehen, ich würde das Haus für mich umbauen und am Ende doch verkaufen. So ist es, wenn man keine Kinder hat. — Aber Bentham hat auch keine Kinder, hatte Jakob eingewendet. — Natürlich nicht; er hat den jungen Mann hier, Ihren Kollegen, und dazu mehr Mut als ich. Für einen alleinstehenden Menschen ist der Ablauf der Zeit am Ende widersinnig. Zeit ist, daß Kinder groß werden und ihrerseits Kinder bekommen — oder die ziemlich nackte Tatsache, daß es Tage und Stunden gibt und daß man stirbt.
Zweimal rief Hans im Büro an, sie sprachen darüber, im Herbst gemeinsam wandern zu gehen; Jakob dachte, daß sie es nicht tun würden. — Du fehlst mir, sagte Hans. Allmählich beneide ich dich sehr, weil du verheiratet bist.
Gerade ausgestreckt, die Hände hinterm Kopf verschränkt, lag Jakob Nacht für Nacht im Bett und hoffte, daß Isabelle noch nicht schlafen kommen würde. Die Zeit verging viel zu schnell. Er lag nackt unter der Decke, ohne sich zu bewegen, als könnte er so seinen Körper überreden preiszugeben, was er tun sollte. Aus dem Schlaf schreckte er gegen Morgen schweißgebadet, erleichtert, Isabelle neben sich zu wissen. Sie sprach neuerdings im Schlaf, er konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber anscheinend träumte sie häufig von einer Katze. War er sicher, daß sie fest schlief, stand er auf, ging von Zimmer zu Zimmer, stand im Eßzimmer oder unten, in Isabelles Zimmer am Fenster und schaute auf die Straße. Er freute sich, wenn er den weißen Fuchs sah, der auf dem Weg nach Hampstead Heath die Mülltonnen durchsuchte, ihm gefiel, wie sicher sich das Tier bewegte, wie selbstverständlich es die Straße überquerte, in der es so fehl am Platz war. Einmal schien der Fuchs Beute gemacht zu haben, zerrte etwas, das wie eine Katze aussah, ein Stück den Bürgersteig hinunter, ließ es dann liegen. Jakob öffnete das Fenster, um besser zu sehen, aber er konnte nichts erkennen. Er erschrak, als hinter der Wand eine Männerstimme laut wurde, nicht verständlich, aber erkennbar zornig, und kurz darauf etwas gegen die Wand schlug, als sollte es hindurchbrechen. Eine zweite Stimme kam dazu, jünger, schien es, vielleicht auch eine Frauenstimme. So unangenehm es Jakob berührte, er konnte sich doch nicht losreißen. Ob das eine Ausnahme war, fragte er sich, oder ob Isabelle das nachbarliche Krakeelen täglich hörte und ihm nichts davon sagte? Und wenn es so war, warum? Er war gänzlich aufgewacht, er fühlte sich wie animiert und schämte sich dafür. Dann knallte eine Tür, und er ging nach oben. Wieder im Bett, fürchtete er, das Fenster nicht ordentlich gesichert zu haben, er schreckte bei jedem Geräusch hoch. Einbrecher gab es, Gewalt gab es; als er aufstand, war er erleichtert, alles unversehrt zu finden.
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