Die Straßen waren nicht dunkler als die in Berlin, doch brannte in kaum einem der Fenster Licht, und die Straßenschilder in Sanskrit verunsicherten sie. In jedem Haus konnten Flüchtlinge, versklavte Arbeiterinnen versteckt sein. Männer musterten sie, Halbwüchsige sprachen sie an, um sie in eines der unzähligen indischen oder bengalischen Restaurants zu locken. Es war nicht ihr erster Ausflug ins Eastend, aber der erste, den sie alleine unternahm. Sie war durch zwei langweilige Kleiderläden (weite, bestickte Kittel, Kapuzenjacken, Stiefel in grellen Farben) geschlendert, hatte einen kleinen Mörser aus Holz in einem indischen Supermarkt gekauft, von außen Buchläden, Schaufenster voller Kassetten und CDs angestarrt und sich gefragt, was an den teils renovierten, teils verfallenden, beinahe dörflichen Häusern die Berühmtheit des Stadtviertels rechtfertige. Es war öde hier und etwas feindselig. Ein hünenhafter Mann folgte ihr hartnäckig, sie suchte schließlich Zuflucht in einem der beiden Bagel-Shops auf der Brick Lane, stand an der verspiegelten Wand gegenüber der Theke, aß einen Bagel, trank zwei Becher sehr heißen, starken Tee, und der Hüne beobachtete sie von draußen so sehnsüchtig, daß sie kurz davor war, ihn hereinzubitten und zu einem Becher Tee einzuladen. Die Frau, die zwischen Würstchen, einem riesigen Stück Braten und der Kasse blitzschnell hantierte, musterte sie aus den Augenwinkeln. — Der geht wieder, keine Sorge. Es geht überhaupt alles am Ende. Isabelle nickte, unsicher, ob sie richtig verstanden hatte. — Deiner ist er ja wohl nicht, ich meine, dein Freund? Sie schnitt eine Scheibe Fleisch ab, zerteilte sie. — Am besten man macht es so, zerteilt sie in kleine Stückchen, statt alles auf einmal zu nehmen. Ehemann, Liebhaber, Freund, Vertrauter. Ist für alle besser so, und du siehst aus, als hätten die Hühner dir das Brot weggefressen. Zögernd stellte Isabelle sich näher an die Theke. — Wir sind erst seit ein paar Monaten hier.
— Na, so klingt das auch. Aus Deutschland, wie?
— Aus Berlin.
— Hör zu, ich hab’ eine Tochter in deinem Alter, auch hübsch, und bestimmt ein gutes Mädchen. Und auch so ein Pflänzchen-rühr-mich-nicht-an, alles immer nur ein bißchen auf Abstand. Bloß gegen den Krieg war sie den halben Tag unterwegs gewesen, das schon, weil es im Grunde eine Art Prinzip ist, nicht wahr? Schau dich an, Mum, sagt sie, von dem ersten Mann verprügelt, vom zweiten verlassen, und die ganzen Jahre hier geschuftet. Schau dich an, Mum. Klar, sage ich ihr. Aber ich habe die beiden Kerle geliebt, auch wenn sie nicht viel getaugt haben. Dem einen bin ich heulend hinterhergerannt, na und? Und ich hab’ dich, sage ich ihr. Du willst dir mein Unglück ersparen? Gut und schön. Aber was hast du dann am Ende gehabt?
— Sie kann doch noch Kinder bekommen, wenn sie so alt ist wie ich.
— Wird sie aber nicht, und wenn, dann wird nicht einmal das was ändern. Ich sage es dir nur, weil du mich an sie erinnerst. Auch nicht glücklich. Und irgendwo braut sich was zusammen. Wäre mir egal. Nur denke ich, es wird etwas Unglückliches sein.
Isabelle schaute auf die Straße, sie war leer. — Will mich nicht einmischen, sagte die Frau, dein Galan hat sich jedenfalls verzogen. Die Frau nickte abschließend, als wäre es jetzt genug Tee, genug Wärme an einem kühlen Tag im Juni, zuviel geredet, verschwand in den hinteren Teil des Ladens, wo, auf riesigen Blechen übereinandergestapelt, Bagel darauf warteten, in den Ofen geschoben zu werden.
Den kleinen Mörser vergaß Isabelle, nach fünfhundert Metern wollte sie nicht mehr umkehren. Flush Street, Plumbers Row, sie lief weite Schleifen, hier war noch eine Galerie, dort eine kleine Druckerei, zwei junge Frauen in Röckchen, die kaum den Schritt bedeckten, kamen ihr entgegen, wichen nicht aus, drängten sie vom Bürgersteig; dann hatte sie in den Seitenstraßen die Orientierung ganz verloren, steuerte eine Telefonzelle an, wählte die Nummer vom Büro, Jakob war mit Bentham spazieren, sagte ihr Maude, Alistair aber zur Stelle, und er beschrieb ihr ein Restaurant in Plumbers Row, wo sie alle drei sich in einer Stunde treffen könnten. — Geh einfach zurück zur White Chapel Gallery und laß dir den Weg erklären. Oder soll ich dich dort abholen?
Aber es war Jakob, den sie als ersten sah, und sie rannte auf ihn zu, als hätte er sie erlöst, als wäre er doch der Ritter, der sie großmütig beschützen würde. Er schloß sie in die Arme und führte sie auf dem kürzesten Weg zu Bengal’s Secret , wo Alistair schon in der Schlange stand, — so ist es hier immer, rief er ihnen zu, aber es lohnt sich, ihr werdet sehen. Und so füllte sich, als sie einen Platz zugewiesen bekamen, der Tisch mit dem, was Alistair bestellt hatte, Fleisch und Gemüse und Reis, immer neue Kannen mit Wasser wurden ihnen gebracht, — London zehrt, erklärte Alistair ernsthaft, ihr eßt viel zu wenig. — Und dann gehen wir etwas trinken, sagte Jakob, er schien sehr gut gelaunt, aber Alistair fuhr sich oft und öfter durchs Haar, war blaß und sagte, daß er schleunigst nach Hause müsse, umarmte sie beide und war davon, während Jakob und Isabelle sich noch einmal verliefen, Hand in Hand durch die Straßen irrten, bis sie ein Taxi anhalten konnten.
Am nächsten Morgen erwachte Isabelle beruhigt und heiter. Ein Tag löschte den nächsten aus, dachte sie, und in der Nachbarwohnung blieb es still. Aber das Vergessen hatte seinen Widerpart und Gegner; Polly tauchte, wann immer Isabelle ans Fenster oder vor die Tür trat, auf der Straße auf. Einmal sprang sie auf die Fensterbank im Erdgeschoß, miaute, bis Isabelle auf sie aufmerksam wurde, und verschwand wieder.
Ein paar Tage lang arbeitete Isabelle fast ohne Unterlaß, ging nur zum Einkaufen hinaus, telefonierte mit Peter, mit der Lektorin des Kinderbuchverlags, mit den jungen Leuten, die den Hörbuchverlag aufmachten und von ihrem Entwurf begeistert waren. Auch mit Andras sprach sie, er war aus Budapest zurückgekehrt, mißmutig, als wäre eine Niederlage, was seine eigene Entscheidung war. Isabelle hörte seiner Stimme an, daß sein Mißmut noch andere Gründe hatte, mochte aber nicht danach fragen, als würde seine Antwort einen sicheren Rückzug für sie selbst abschneiden. Andras war weniger zurückhaltend. — Was ist eigentlich mit dir los? Wo ist deine nette, helle Schulranzenstimme geblieben? Veränderst du dich womöglich?
Daß es ihr gutginge, beharrte Isabelle, und das war die Wahrheit, aber Andras hatte trotzdem recht. Sie veränderte sich. Sie wußte nicht, wie und was es bedeutete. — Du klingst, als fändest du dein bisheriges Leben recht eintönig, beharrte Andras, und Jakob, was ist mit Jakob? fragte er, doch sie wußte keine Antwort.
Jakob kam gegen neun nach Hause, sie aßen zu Abend, und er ging früh zu Bett. Er fragte nicht, warum sie auf einmal so häuslich war. Vielleicht gefiel es ihm. Sie umarmten sich liebevoll, dabei blieb es. Und da war Polly. Als Isabelle, es ging schon auf Mitternacht zu, aufstand und sich in ihr Arbeitszimmer setzte, hörte sie von draußen eine Stimme rufen und rufen, — Sara, Sara, wo bist du? Dann war es wieder still. Eine halbe Stunde später sprang Polly triumphierend auf die Fensterbank. Heftig stieß Isabelle sie herunter.
Tags darauf, sie war mit der U-Bahn von Camden Town gekommen, stand vor dem Ausgang der Kentish Town Station Jim, als habe er auf sie gewartet. — Da bist du ja, sagte er und grinste sie an.
Es geht alles nach Plan, sagte er sich, aber das war Unsinn, eines nach dem anderen ging schief. Er hatte wahrhaftig einen Brief erhalten, ordentlich in einem Umschlag an ihn adressiert, mit ein paar Rechnungen und Reklameheften durch den Schlitz in der Tür geschoben, und zufällig lag er obenauf. Sein Name. Damian hatte ihm einen Brief geschrieben, nach mehr als einem Jahr, wie umsichtig, dachte Jim höhnisch, als er den Absender entziffert hatte. Damian also. Nur sein Name, keine Adresse. Die andere Post lag in einem Karton in der Küche, Rechnungen, die von irgendwo abgebucht wurden, Rechnungen, die Jim bezahlt hatte, und jetzt der Umschlag mit Jims Namen, in großen Druckbuchstaben, damit es garantiert jeder lesen kann, dachte Jim aufgebracht und ließ den Brief liegen. Aber am nächsten Tag öffnete er ihn doch, nestelte das Blatt aus dem Umschlag, das war Damian, der ihn dazu zwingen konnte, den Umschlag zu öffnen und diese vier Zeilen zu lesen, als hinge wer weiß was davon ab. Daß es ihm ausgezeichnet gehe, daß er deswegen viel länger, Monate länger, geblieben sei als geplant. Aber wo? fragte sich Jim und drehte Blatt und Bogen. Jetzt würde er allerdings zurückkommen , also hoffe ich, mein Alter, daß Du eine andere Unterkunft findest. In drei Wochen bin ich zurück.
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