Sie hatten für den Garten keine Verwendung gehabt, da es nur ein langes, schmales Stück Rasen war, eine Wiese inzwischen, die sie nicht gemäht hatten, ein Rotdorn wuchs nahe an der Mauer, die höher war, als Isabelle gedacht hatte. Als sie die Arme ausstreckte, erreichte sie eben den Mauersims, der ihren Fingern keinen Halt bot. So stand sie einen Augenblick, versuchte sich hochzuziehen, rutschte ab. Sie ging wieder hinein und holte einen Stuhl, dessen Beine in der Erde versanken, aber besser war es doch. Nach drei Anläufen fand sie eine Lücke für ihren rechten Fuß und Halt für die Hände, zog sich hoch und glaubte, es geschafft zu haben, als sie abrutschte, erst mit dem Kinn, dann mit dem Ellenbogen gegen die Mauer schlug, der Stuhl kippte zur Seite, und sie fiel ins feuchte Gras. Den Schmerz spürte sie erst, als sie wieder den Fuß in die Bresche schob, die ihm nicht ausreichend Halt bot, Mörtel rieselte heraus, sie bohrte mit der Schuhspitze nach, und endlich konnte sie sich abstoßen, das linke Bein auf den Mauersims schwingen. Am Ellenbogen hatte sie eine Schürfwunde, ein stechender Schmerz, der sich zwischen den Rippen hindurch bis in die Lunge hinein fortsetzte, nahm ihr fast den Atem, er packte sie, raffte beinahe wohltuend zusammen, was die letzten Monate verstreut gewesen war, vage Schrecken und Hoffnungen und Enttäuschungen, die in einem weitmaschigen Netz hängenblieben. Es war zu weitmaschig, die Agentur, ihre Ehe, ihre Zeichnungen, London, Alistair und Jim, die Geräusche aus der Nachbarwohnung. Es kam ihr vor, als müßte sie noch einmal von vorne anfangen, und die Zeichnungen waren ihre einzige Spur. Sie kniete sich hin, stützte sich mit den Händen ab, blickte zurück auf das Haus, in dem sie wohnte, und dachte an das, was Andras ihr in seiner letzten Mail geschrieben hatte. Das Mädchen mit dem roten Mantel erinnert mich an diesen Film , Wenn die Gondeln Trauer tragen . Es hat etwas Gemeines an sich, als wäre die Kindheit nur ein Versteck, aus dem man den anderen auflauert. Der Schmerz ebbte ab und wurde diffus, sosehr sie ihn festzuhalten versuchte. Da lag das Mädchen, zusammengekrümmt. Es trug eine Art Trainingshose, darüber ein nicht sehr sauberes T-Shirt, das zu klein war. Isabelle betrachtete den Streifen Kinderfleisch ohne Freundlichkeit. Der Garten war übersät von Müll, altem Spielzeug, auf der Terrasse standen Bierflaschen und Küchengerät, eine Pfanne, einen Putzeimer entdeckte sie. Auswurf, Tüten voller Müll, und das Kind stellte sich tot wie ein Tier, der Stock lag noch neben ihm im Gras. Es hörte nicht auf zu nieseln, sie fröstelte. — Steh endlich auf! Hatte sie laut gerufen? Jedenfalls drehte das Mädchen den Kopf zur Seite und beobachtete sie, hielt jede Bewegung, jede Einzelheit in Isabelles Gesicht mit ihren Augen fest, angespannt, konzentriert. Mit einem Satz sprang Isabelle hinunter, wütend, denn sie wußte nicht, wie sie wieder auf die Mauer und zurück in ihren Garten gelangen würde. Was für eine Idiotie, dachte sie widerwillig, zögerte, dann beugte sie sich endlich zu dem Mädchen, packte es an den Schultern und richtete es auf. — Steh endlich auf! Das T-Shirt war feucht, sie zog ihre Strickjacke aus, die am Ellenbogen zerrissen war, und wickelte sie um das Kind. Und weiter? Das Mädchen ließ die Augen nicht von ihr, Isabelle hielt es noch immer an den Schultern, versuchte, dem insistierenden Blick auszuweichen, es war ein Kampf, der unentschieden endete. Es war ein Kampf. — Wie heißt du? fragte Isabelle unfreundlich, und während sie auf die Antwort wartete, kam von dem Baum die Katze, mißtrauisch noch, jeden Schritt in der Luft verzögernd, setzte sich vor die beiden. — Polly, sagte Sara. Sara, sagte sie dann und ließ die Augen nicht von Isabelle, klammerte sich daran fest, als müßte sie sonst untergehen. Der Garten, in dem trotz allem frisches Gras wuchs, in dem sogar eine Rose geduldig ein Stück Mauer entlangkletterte, diente als Gefängnis. Von hier aus war die Mauer höher, die Erde anscheinend tiefer eingesunken oder nie aufgeschüttet worden, und Isabelle hatte sich in diese lächerliche Lage selbst gebracht, würde Müll zusammensuchen müssen, um sich auf die Mauer zu hieven, oder durch die fremde Wohnung gewalttätiger, unbekannter Nachbarn auf die Straße gehen und dann ohne Schlüssel vor dem eigenen Haus stehen. Da saß die Katze, aufmerksam, abwartend. Sie bewegte sich nicht, das Kind zitterte, und Isabelles Hand erstarrte, sie fühlte, wie ihr Gesicht hart wurde, aber es gab keinen Ausweg, und sie drehte sich zu dem Kind, um seinen Blick zu erwidern. Sie fühlte sich, als wäre der Abstand zwischen ihnen ausgelöscht, als schmeckte sie in ihrem eigenen Mund den bitteren, sauren Geschmack von Erbrochenem, in ihrem Hirn Angst und Schuld. Die Katze gab einen Laut von sich, klagend, aus ihrer Nase rann ein bißchen Blut, sie nieste. Was mache ich hier? dachte Isabelle. Unsanft faßte sie Sara wieder an der Schulter, drehte sich zum Haus zurück. Jakob war nicht da. Jim, dachte sie, aber sie wußte nicht, wo er wohnte, in der Nummer 43 schon oder weiter unten. Dem Kind sagen, es solle Jim rufen, dachte sie. Sie trat einen Schritt zurück, um das Gesicht genauer zu mustern, die etwas stumpfe Nase, die hohe Stirn, aschblonde, strähnige Haare. Der Mund mit den dünnen Lippen öffnete sich, es kam aber nichts heraus, dann, nachdem Isabelle sie geschüttelt hatte, kniete sich Sara in das feuchte Gras, kniete ungeschickt und stieß etwas wie einen Ruf aus, unverständlich, und einen zweiten. Lächerlich zu glauben, daß diese dünne Stimme über die Gartenmauern reichen könnte, eine Stimme, die kaum etwas Kindliches hatte, eigentlich auch nichts Menschliches, genausogut konnte man von der Katze erwarten, daß sie zu sprechen anfing, und Isabelle bückte sich zu Polly, hob sie auf. Das Tier schmiegte sich in ihre Arme, warm und zutraulich. Jede zärtliche Bewegung Isabelles übertrug sich wie in einer logischen Umkehrung auf Sara, die immer noch kniete, zitterte, jedesmal zitterte, wenn Isabelles Hand durch Pollys Fell fuhr, als würde sie von elektrischen Stößen getroffen. — Aber ich will dir helfen, sagte Isabelle ärgerlich. Sara fing an zu weinen, Isabelle beobachtete sie verblüfft, ein lautloses, stoßhaftes Weinen. Vorsichtig setzte Isabelle Polly ab, schaute sich um. Auf der Terrasse stand ein umgestürzter Tisch, die Beine ragten waagrecht ins Leere. Der verwahrloste Garten diente nur dazu auszusortieren, was man nicht länger brauchte, was kaputt war. Eine Amsel landete auf der Mauer, schüttelte das Gefieder, tirilierte. Von irgendwoher roch es nach Fäulnis. Ein paar Meter entfernt wartete ihr Arbeitszimmer, ihr Computer, ihre schöne, saubere Wohnung. Das Kind weinte, die Katze strich an ihren Beinen entlang, schnurrend. — Was hast du mit ihr gemacht? fragte Isabelle. Sie ist verletzt.
Aber anscheinend war es nur eine Platzwunde, das Blut trocknete schon. — Nun komm schon, es ist nicht so schlimm, sagte Isabelle ungeduldig. Sie nahm die Terrasse, den Garten noch einmal in Augenschein. Es könnte überall sein, dachte sie, in Bosnien, in Bagdad, es war immer die Gegenseite ihres eigenen Lebens. Als wäre das Maß Leid festgesetzt, nur die Verteilung offen. Schüchtern richtete Sara sich aus der Hocke auf, streckte ihre Hand nach Polly aus, um sie zu streicheln, aber die Katze sprang mit einem Satz zur Seite. — Du hast sie geschlagen, sagte Isabelle kalt, was erwartest du? Das Mädchen hob den Kopf, sah Isabelle an, ihre Augen waren jetzt grau, herausfordernd, — es ist meine Katze, sagte sie trotzig. Sie stand auf, sie stellte sich dicht vor Isabelle, schuldbeladen, bereit, sich zu verteidigen, zwiespältig, dachte Isabelle und fühlte sich herausgefordert, abgestoßen. Zielstrebig wandte sie sich der Mauer zu, die Amsel flog auf, Sara und die Katze wichen nicht von ihrer Seite. Es wäre ein leichtes, dem Kind heraufzuhelfen, und da war das Mädchen schon, dicht neben ihr, atmend, säuerlich riechend, beide Arme nach oben gereckt. Aber Isabelle hob die Katze auf, setzte das Tier oben ab und fing an, nach Halt für sich selbst zu suchen, nach einer Lücke oder einem Vorsprung für ihre Füße, und da die Mauer auf dieser Seite mangelhafter gebaut oder nie ausgebessert worden war, fand sie, wonach sie suchte, rutschte mit den Händen wiederholt von den nassen Ziegeln ab, stützte sich schließlich an dem Baumstamm ab. Der Stoff ihrer Bluse zerriß. Oben, auf dem Mauersims sitzend, schaute sie nach dem Mädchen. Es unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen. Mit sprachlosem Entsetzen starrte es Isabelle an, alles Kindliche war aus seinem Gesicht verschwunden, es gab nur noch Ausweglosigkeit und Leid darin; Isabelle mußte lachen. Ein paar Worte würden genügen, Sara zu beschwichtigen, sie könnte ihr die Hand entgegenstrecken und sie ebenfalls hinaufziehen, zu der Katze, die schnurrte, was für ein albernes Schauspiel, dachte Isabelle, wie idiotisch, sich einzumischen. Entschlossen sprang sie in ihren eigenen Garten hinunter, faßte mit beiden Händen die Katze und setzte sie in das Gras, das hier frischer aussah und angenehm roch. Die Tür zu ihrem Wohn- und Arbeitszimmer stand offen, ihr Leben, von außen betrachtet, wirkte geordnet und einladend, unberührt, dem Anschein nach, wie ein Geburtstagspäckchen, das auszupacken man noch keine Lust verspürt hatte. Es lag aber bereit. Die Katze rieb ihren Kopf an Isabelles Wade, miaute. Man könnte, fuhr es Isabelle durch den Kopf, sie genauso wieder auf die Mauer heben, auf die Seite hinunterstoßen. Alles war zweideutig. Hatte sie dem Mädchen geholfen, wie es ihre Absicht gewesen war? Später würde sie durch die zu dünnen Wände den Geräuschen aus der benachbarten Wohnung lauschen und wissen, was dort geschah, beinahe so, als wäre sie beteiligt. Sie war sich sicher, daß Sara alleine nicht wieder in die Wohnung kommen würde, die Tür war geschlossen gewesen und hatte bestimmt ein Schnappschloß. Zwei oder drei Stunden, dachte Isabelle, bis Saras Eltern nach Hause kamen. Bis Jakob aus dem Büro kam. Sie hob die Katze auf, das plumpe Ding, das sich schwer machte, unsicher, was als nächstes geschehen würde, nachdem sie gerade erst in einen fremden Garten geschwebt war. Zurücksetzen, auf die andere Seite — was hatte sie nur gemacht, fragte sich Isabelle. Das Tier schien ihre Gedanken mühelos zu lesen, wenn auch die Anspannung fast unmerklich war, eine winzige Verschiebung der Beine und des Kopfes, es bereitete sich darauf vor, fallengelassen zu werden. Dann erschlaffte der warme Körper wieder, als sei Polly zu dem Schluß gekommen, sie müsse eine derartige Behandlung doch nicht fürchten, sie machte es sich bequem, mit leisem Maunzen, ein Bild von einer Katze, dachte Isabelle, als sie sich beide in der Glastür spiegeln sah, während sie die zwei Stufen heraufstieg.
Читать дальше