Dann bewegte sich der Schlüssel mit einem Ruck, und es gab einen Luftstoß, aber es duftete auch und war warm, wärmer als in der Wohnung, und Polly zwängte sich durch den Spalt, lief die zwei Stufen hinunter, blieb stehen und drehte sich nach Sara um. Auf der Terrasse stand ein Tisch, umgestürzt, ein kleiner Tisch, weil man dort draußen sitzen konnte und essen, jetzt, wo sie einen Garten hatten, es war wie ein Versprechen gewesen, alle vier, die dort zusammensaßen, nachdem Mutters Tante Martha gestorben war, und Dad hatte Sara auf seine Schultern gehoben, um mit ihr in den Garten zu gehen, hatte gesagt, daß sie hier bleiben würden. Alles war voller Versprechungen gewesen, und Sara würde, sobald sie umgezogen wären, in die Schule kommen, hatte Dad gesagt, und dann gab es doch etwas, das alles sein ließ wie vorher. Weil sie nicht wuchs, weil es vielleicht ihre Schuld war. Dave kam nicht mehr. Neben dem Tisch stand ein Stuhl mit drei Beinen, sie sah auch ihren alten Bär Tod, der eines Tages verschwunden gewesen war, Dave hatte ihr dann erzählt, Tod wäre fortgereist, mit dem Zug weit weggereist, sagte Dave, um sie zu trösten, aber da lag er, halb unter dem Tisch, halb unter dem Stuhl, aufgequollen, der Bauch sogar aufgeplatzt; sie schaute weg. Sie machte einen Schritt, hielt mit weit ausgestrecktem Arm noch die Tür, dann einen zweiten Schritt und noch einen, stand schon auf der ersten Stufe, der zweiten, während Polly alles Gras überquert hatte und an etwas roch, an einer Pflanze, die dort an der Mauer wuchs, dort, wo die Sonne war. Das Gras war feucht, sie spürte es durch die Strümpfe, ohne Schuhe, nur in Strümpfen durfte man nicht hinausgehen, sie hob die Beine sorgfältig, um es gutzumachen, ein Plastikeimer lag da, sogar eine kleine, grüne Schaufel, sie dachte, daß sie die Strümpfe vielleicht ausziehen könnte, damit sie nicht naß und dreckig würden. Neben dem Eimer glänzte etwas, eine große Scherbe, der Boden einer Flasche, und neben der Glasscherbe stand ein winziges Pferd, braun und mit einem weißen Fleck auf dem Kopf, mit einem schwarzen Sattel auf dem Rücken. Vorsichtig streckte sie die Hand danach aus. Es war wirklich ein Pferd. Sie nahm es fest in die Hand, umschloß es, dann spreizte sie die Finger und betrachtete es wie einen Käfer, der davonkrabbeln könnte. Da war es noch immer, und es hatte alle vier Beine. Sie richtete es auf, es galoppierte ihre Handfläche entlang. Wenn sie es absetzte, konnte es immer weitergaloppieren, über Hügel und Ebenen hinweg, in dem warmen, duftenden Wind, an einer riesigen Blume, groß wie ein Baum, vorbei und zwischen den Gräsern hindurch, durch eine Steppe, die nicht endete, immer weiter. Die Glasscherbe war ein See, aus dem das Pferd trank, Sara hielt es am Zügel, wartete, bis es sich satt getrunken hatte, dann stieg sie auf, und los ritten sie, immer schneller, bis sie die sengende Sonne erreichten, wo ein riesiges Ungeheuer lauerte, ein Untier mit Krallen und einem ungeheuren Schweif, der nach ihnen schlug, um sie zu töten. Aber sie wichen aus, mit einer schnellen, geschickten Bewegung brachten sie sich in Sicherheit, hinter einem Hügel, und beobachteten das riesige Tier. Es war ein Drache. Er lag still da, um sie zu täuschen, nur sein fauchender Atem verriet, daß er nicht schlief. Die Flanken hoben sich, senkten sich, furchtlos lag er da, man mußte das Schwert finden, das ihn besiegte, das seinem Drachenkörper die Wunde zufügte, man mußte furchtlos und kühn sein, — und wenn der Tod kommt, fürchten wir uns nicht, flüsterte Sara. Sie strich über den zitternden Rücken des Pferdes und sprach ihm Mut zu, dann sang sie sogar ein Lied, leise, und das Ungetüm schlief tatsächlich ein, schlief im Gras, hingestreckt, vertrauensvoll. — Wir fahren zur Hölle, flüsterte Sara. Wir gehen unter und ihr mit uns. Mit dem Finger strich sie über den zitternden Rücken des Pferdes und flüsterte ihm beruhigend zu. — Aber wir ergeben uns nicht. Der Lohn war die Freiheit, der Lohn war ein goldener Schatz, und jeder Wunsch ging in Erfüllung. Edelsteine, und der Zauberbaum, zu dessen Füßen das Untier lag, der Baum, den man berührte, vor dem man sich verneigte, damit die Wünsche sich erfüllten, und zu Füßen des Baums das Untier. Schlimm war, daß es noch lebte. — Wir müssen es töten, flüsterte sie dem Pferd zu, das den Kopf hob und die Mähne schüttelte und zustimmend wieherte, — müssen es töten, mit einem Hieb. Denn noch schlief es, doch wenn es aufwachte, war alles verloren, — mit einem Hieb, wiederholte Sara und schaute sich suchend um, denn jeder Kampf hatte seine Waffe, sagte Dave, sagte Dad, und da lag eine Keule, lag für sie bereit, ein dicker, nicht allzu langer Ast, den Sara aufhob, hoch über den Kopf schwang, in die Luft, mit beiden Händen umklammert, und Pollys Schnurrbarthaare zitterten, sie gab einen kleinen zufriedenen Laut von sich, schlug ihre Augen auf. — Es ist das Untier, flüsterte das Pferd schaudernd, du mußt es erschlagen, um den Zauber zu brechen, siehst du seine Augen, du wirst niemals wachsen und groß werden, wenn sein Blick dich trifft, es schlug die Augen auf, beide Augen, dunkelgrün, schläfrig, wenn du je in die Schule willst wie alle anderen, ein kleiner Laut, als wollte Polly etwas sagen, schläfrig, aber das Pferd beschwor Sara, und so hob sie die Arme, reckte sie hoch in den Himmel, um den Schlag gegen den Feind zu führen, der den Kopf hob, zum Angriff bereit, und Sara reckte sich, weiter hinauf, ein einziger Schritt noch nach vorne, und dann schlug sie zu.
Pollys Schrei zerriß die Stille, mit gesträubtem Fell jagte sie den Baum hinauf, fauchend, auf den untersten Ast, der ihr keinen Halt bot, da sie mit dem verletzten Hinterbein abglitt, mühsam auf die Mauer zukroch, springen mußte, nur ein winziges Stück, das Mauer und Ast trennte, und sie stieß sich ab, schrie noch einmal vor Schmerz auf und sprang hinüber. Auf der Mauer schien sie sich sicherer zu fühlen. Sie leckte das Hinterbein und die Pfote, ließ den Blick nicht von Sara, die noch immer hoch aufgerichtet dastand, starr, übers Gesicht liefen ihr Tränen, aber sie empfand nichts als Entsetzen, etwas, das kalt und schneidend war, während sie Polly sah, die dahockte, fauchte, als Sara die Arme sinken ließ, die kalten Arme, als hätte sie jemand mit weißer Farbe übergossen, weißer, leuchtender Farbe, die ihr den Atem nahm und sie zeichnete, wie damals, als ihr Vater zum Spaß ihren Arm bis zur Schulter in einen Farbeimer gestoßen hatte, damit man sie leichter finden würde, damit wir dich leichter erkennen, und da stand sie. Bückte sich nach dem braunen Pferd, hielt es in der Hand, schleuderte es über die Mauer, aber es war zu spät. Polly zuckte zusammen, kroch einen Meter weiter, entfernte sich von Sara so weit wie möglich. Erst jetzt bemerkte Sara, daß im Nachbarhaus ein Fenster offenstand und die Frau sie beobachtete. Sie gab kein Zeichen von sich, beobachtete nur stumm, es war eine endlose Zeit, bis sie sich weiter hinauslehnte, um besser zu sehen, und dann rief sie — was ist passiert? Brauchst du Hilfe? Sara kauerte im Gras, schlang die Arme um die Schultern. Die Sonne war inzwischen von Wolken verdeckt. Das Gras roch feucht und kalt. Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf, rührte sich aber sonst nicht vom Fleck. Da war Polly. Sie wollte zu Polly etwas sagen, sie wollte sich entschuldigen, Polly zu sich locken, um sie zu trösten, aber es kam kein Laut aus ihrem Mund, und Polly klagte jetzt leise, ein gleichmäßiger, unaufhörlicher Ton. Sara hörte es, dann beugte sie den Kopf und erbrach sich, einmal und noch einmal, gelben, bitteren Schleim, der im Gras einen gelben Fleck machte und bitter roch, ihr Magen tat weh, sie preßte die Hände auf den Bauch und wagte nicht, zu schluchzen, schluckte die Tränen, kauerte sich ein bißchen weg von dem Gestank, hob den Kopf nicht mehr. Gleich würde die Scham kommen. Dave, wenn er käme, würde sofort wissen, was geschehen war. Er würde gehen, ohne sie anzusehen. Er würde nicht wiederkommen. Irgendwo war Polly. Alles war still. Vielleicht starb sie jetzt. Vielleicht würde sie, Sara, auch sterben. Es war kalt geworden. Dann kamen erste Tropfen, dick, eisig. Sie bewegte sich nicht. Bald war sie durchnäßt, kauerte, spürte nichts mehr, nur ein kurzer Regenschauer, der langsam nachzulassen schien, und das Fenster im Nachbarhaus klapperte, wurde geschlossen. Kurz darauf öffnete sich die vergitterte Glastür, die in den Garten nebenan führte.
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