Zu Beginn der Weihnachtsferien fuhr ich nach Dresden und verkroch mich im Bett. Kam meine Mutter nach Hause, wich ich ihr kaum von der Seite.
Am 24. erwarteten wir Vera schon zum Mittagessen. Zu meiner Überraschung deckte Mutter für vier.
Roland war mindestens zehn Jahre älter als Vera und bestimmt zehn Zentimeter kleiner als sie. Seine feine Nase paßte nicht zu den wulstigen Lippen. Unter seinem dünnen schwarzen Haar glänzte die Kopfhaut. Er trug eine ungewöhnliche Brille, eckig und randlos, und sprach einen angenehmen Dialekt, den ich für südthüringisch hielt. Auffällig war, daß er sich für alles interessierte, selbst für das Etikett auf der Limonadenflasche. Beim Zuhören nickte er und sagte unentwegt» Okay, okay, okay«, als bedürfe jeder Satz seiner Zustimmung.
Als Roland seine Genossen in» Torino «erwähnte, wo er letztes Jahr Weihnachten gefeiert habe, wurde mir einiges klar. Ich fragte ihn trotzdem, wie man denn nach Turin komme.»Mit dem Auto«, antwortete er und kaute zufrieden weiter. Ich sagte, daß ich auch gern ein Auto hätte, mit dem man bis nach Turin fahren könnte, schon Salzburg würde mir reichen.
Unbeeindruckt belehrte mich Roland, daß man sich hier über den Westen viel zu viele Illusionen mache. Mit dem Reisen sei es längst nicht so weit her, wie wir glaubten, schließlich brauche man Geld dafür; und nach zwei oder drei Wochen fange die Schufterei dann wieder an. Und so weiter und so fort.
«Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!«Ach, Nicoletta, hätte ich diesen Satz nur schon damals gekannt! Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Bei der Vorstellung jedoch, nun werde die Geschichte mit Nadja kolportiert, bereute ich meinen Abgang.
Wenig später klopfte es an meine Tür. Ich ließ Roland herein. Er hielt mir seine Schachtel» Reval «hin. Wir rauchten nebeneinander am offenen Fenster. Ich weiß nicht, ob er nur tiefe Züge nahm oder mehrmals zum Sprechen ansetzte. Bevor er ein Wort hervorgebracht hatte, erschien Vera, strich mir übers Haar und zog ihn mit sich fort. Die Zigarette schmeckte fürchterlich.
Am Abend wurde Roland übermäßig beschenkt. Er selbst hatte nichts vorbereitet, zumindest nicht für Mutter und mich. Vera trug einen Hosenanzug, den er ihr mitgebracht hatte, und streckte das Kinn vor, um uns das Parfüm an ihrem Hals riechen zu lassen. Dann wurde Tante Camillas Paket auf den Tisch gestellt. Vera und ich begannen sofort die Suche nach den Geldscheinen. Schlimmer als die schlimmsten Zollbeamten fetzten wir einvernehmlich das Geschenkpapier von den Ananasdosen und Kaffeepäckchen, rissen Sterne und Schleifen ab und kümmerten uns nicht um die zu Boden fallenden Reste. Da Roland sich angewidert von uns abwandte, trieb ich es besonders arg. Den ersten Hunderter entdeckte ich in der Packung einer Fa-Seife, den zweiten unter dem Plasteeinsatz der Sprengel-Pralinenschachtel. Der dritte blieb verschollen, bis Mutter ihn in den Papierresten fand.
Am nächsten Tag — immerhin hatte er morgens um halb sechs Mutter zum Dienst gefahren — machte es sich Roland gemütlich. Er lief in Unterhose herum, rauchte, durchstöberte die Speisekammer, aß im Stehen die Schüssel mit Kartoffelsalat leer, trank den Murfatlar 216aus der Flasche und kratzte sich unentwegt die behaarte Brust.
In seinem Renault, auf dessen Heckscheibe ein blauer Aufkleber mit weißer Friedenstaube prangte, kutschierten Vera und er nach Meißen, Pillnitz und Moritzburg und gingen mit Rolands Genossen, die bei Vera wohnten, ins Theater.
Vera und ich sprachen kaum miteinander. Roland war ihre Rache für Nadja. 217Von meiner Mutter erfuhr ich, daß die beiden bereits beschlossen hatten zu heiraten. Bei Tisch fragte ich, wo sie denn leben wollten.»So ’ne blöde Frage!«sagte Vera. Roland jedoch gestand, am liebsten in den Osten übersiedeln zu wollen. Nur fiele er mit diesem Schritt seinen Genossen in den Rücken.
Roland sprach immer wieder von den Berufsverboten, auch ihm war das einmal angedroht worden. Mich fragte er, ob ich ihm etwas zu lesen geben könne, etwas von mir Geschriebenes natürlich, oder vorlesen, hier, jetzt, heute abend. Er erkundigte sich auch, ob es in Dresden einen» Rotlicht«-Bezirk gäbe. Ich kannte nur Rotlicht-Bestrahlung als Synonym für DDR-Propaganda und ähnliche Bezeichnungen wie rotes Kloster (für besonders scharfe Schulen), roter Arsch und dergleichen mehr. Ich dachte, Roland meine eine Art Regierungsviertel. 218
Mutter bezeichnete Roland als feinen Menschen, weil er wegen seiner Aufrichtigkeit überall Probleme bekommen würde, hüben wie drüben. Ich hingegen fand ihn anstrengend und anmaßend. In seiner Anwesenheit sah ich den Grund für meine anhaltende Müdigkeit.
Silvester war furchtbar, die Rückfahrt trostlos.
Die Nadja-Briefe hatte ich weggeschlossen.»Vivat Polska!«war mir fremd geworden. Wollte ich weiterschreiben, mußte ich tun, was ich bislang vermieden hatte, nämlich das Geschriebene lesen.
Nein, es war kein Debakel, nicht mal eine Enttäuschung. Natürlich sah ich, wie unfertig, wie verbesserungsbedürftig das Manuskript war — ohne Bedauern strich ich ganze Absätze und Seiten. Ein paar Details allerdings, einige Beschreibungen und Vergleiche erschienen mir geradezu perfekt, ich fürchtete, sie Babel oder Mailer geklaut zu haben.
An diesem Sonntagnachmittag — kalt, sonnig und ohne Schnee — befiel mich jedoch ein Zweifel, der alles befleckte, alles ungenießbar machte: Ich glaubte mir nicht mehr!
Hatte ich nicht selbst einst erwogen, die» Karl und Rosa leben!«-Mauerschrift auf mich zu nehmen? Sollte denn keine meiner Figuren auf die Idee kommen, das» Vivat Polska!«für sich zu reklamieren? Gründe dafür gab es genug. Und was, bitte schön, war eigentlich so schlimm an der Inschrift? Konnte nicht jeder, der einmal etwas vom braven Soldaten Schwejk gehört hatte, eine Umdeutung vornehmen, die den Verhörspezialisten der Staatssicherheit die Luft aus den Backen nahm?
Sehen Sie, Nicoletta, nun bin ich wieder an so einem Punkt angelangt. 219Es ist so, als spräche ein Erwachsener über die Sorgen und Ängste eines Kindes. Denn Sie werden vielleicht fragen, warum ich mich nicht über die neuen Einfälle gefreut und sie verwendet habe. Gerade das hätte doch der ganzen Sache gutgetan und sie womöglich überhaupt erst interessant gemacht.
Doch wenn mein Lebensgefühl schon nicht tragisch war, mußte es wenigstens die Literatur sein. Und die brauchte Leid. Je größer das Leid, desto besser die Literatur. Lachen Sie nicht! Ich kannte es nicht anders. Unser Part, der östliche, war Leiden und Widerstand oder Mitmachen, tertium non datur. Mein Heldenepos kippte in die Farce; einen Augenblick später war es bereits unmöglich geworden.
Ich hegte den Verdacht, mein falsches Leben habe mir das Schreiben verdorben. Warum hatte ich nicht die Kraft, mein Geschreibe vom Tisch zu fegen und mir statt dessen Kaegis Grammatik 220vorzunehmen? Warum bin ich nicht bis ans Ende gegangen? Weil ich nicht die Kraft hatte, ohne Schreiben, ohne die Illusion einer Berufung zu leben?
Da ich mich nicht änderte, mußte ich warten, bis sich die Welt änderte.
Ich suchte nach einem Ausweg und fand ihn folgerichtig: Ich mußte zurück, zurück in die Zeit vor meinem Sündenfall, als Leid noch Leid und Gott noch Gott gewesen waren.
Nun, Sie ahnen natürlich, was jetzt folgt. Alsbald lag in verführerischer Klarheit die Novelle um einen Schüler vor mir, der am DDR-System zu zerbrechen droht. Ich brauchte ja nur zu schreiben, was ich erlebt hatte, und dies mit einem geeigneten Schluß zu versehen, einer überraschenden Wendung, die sich vondem, was mir widerfahren war, unterschied, ein Finale, das öffentlich vorweisbar war.
Vom Tonfall her schwebte mir etwas in der Art zwischen» Törleß«und» Tonio Kröger «vor. Die Handlung war schnell skizziert. Plötzlich fühlte ich mich frei und unternehmungslustig, als dürfte ich nun, da ich mir meines Werkes so sicher war, wie man es nur sein konnte — die Vollendung schien eine Frage von Wochen —, auch wieder am Leben der anderen teilnehmen.
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