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Titus hatte sich um eine halbe bis dreiviertel Stunde verspäten wollen, damit man an Martins Geburtstagstafel nach ihm frage und jemand einen Platz für ihn freihielte. Er wußte selbst nicht, wie anderthalb Stunden daraus geworden waren. Es tat ihm leid, so viel von der kostbaren Zeit, die er in Böhmes Villa sein durfte, vergeudet zu haben. Und statt sich in der Rolle des geheimnisvollen späten Gastes einzurichten, machte er sich Vorwürfe.
Er hatte noch den Weg über die gelben zerbrochenen Fliesen vor sich, als Bernadette die Haustür öffnete und ihm entgegenkam. Sie trug eine ärmellose Bluse und verschränkte die Arme vor der Brust. Wortlos gaben sie einander die Hand. Die Gänsehaut ging ihr bis zur Schulter.
Titus genoß den Geruch des Hauses. Versuchte er ihn zu beschreiben — Nüsse, frische Wäsche, Möbelpolitur, Zigaretten, Parfüm, Überbackenes, Ananas —, war bereits zuviel Überlegung im Spiel.
«Man drängelt sich in der Küche«, sagte Bernadette und reichte ihm einen Kleiderbügel. Mit einem Teller Kuchen stieg sie die Treppe hinauf.
«Macht doch nichts«, sagte Martin und legte das Geschenk aufs Fensterbrett.»Macht überhaupt nichts. «Sie hatten sich gerade erst an den Tisch gesetzt. Bernadettes Mutter schüttelte ihm lange die Hand. Außer Joachim war noch jener Kruzianer da, der gestern mit Joachim aus dem Park gekommen war. Die drei Mädchen kannte er nicht. Es gab Kaffee und tea with milk , Petits fours und einen selbstgemachten Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Joachims Anwesenheit bedrückte Titus, als hindere sein Freund ihn daran, der zu sein, der er hier einmal gewesen war.
Bernadettes Mutter setzte sich bald zu Titus und erkundigte sich nach seiner Mutter und dem Großvater und danach, ob er die ersten Wochen in der neuen Schule gut überstanden habe. Am liebsten wäre er bei ihr in der Küche geblieben.
In Martins Zimmer sprach man über einen Lehrer, den Titus nicht kannte, und Joachim dozierte dann über das Sentimentale in der Musik von Schütz.
Die Sonne stand so tief, daß sie die Wolken von der Seite und von unten beleuchtete und scharf und dunkel umrandete. Als er endlich die beiden Gestalten auf der Wiese bemerkte, waren sie schon zu weit weg.
Nur an einer Bewegung des Kopfes war Bernadette zu erkennen. Sie hielten sich an der Hand. Beinah hätte er aufgestöhnt, solch einen Stich versetzte ihm dieser Anblick. Sie waren quer über die Wiese gegangen und hatten schon fast die Sträucher erreicht, die das Grundstück nach links begrenzten. Titus drückte seine Stirn an die Scheibe, aber da waren sie verschwunden.
Er hörte seinen Namen.»Wie ausgelaufener Sirup«, sagte er ruhig. Das Licht im Zimmer erlosch, die anderen kamen ans Fenster. Titus drehte sich nicht um, er machte auch nicht Platz. Nach Süden hin war der Himmel grün, aber dort, wo das Lila ins Hell- und dann ins Dunkelblau lief, verschwamm die Grenze.
«Mir schwanden die Sinne«, sang Martin,»mir wurde schwarz vor den Augen, mir wurde lila und grün!«Martin machte Licht und legte die Manfred-Krug-Platte auf. Titus spähte aus den Augenwinkeln hinaus, erblickte aber nur sein Spiegelbild. Martin, Joachim und der andere sangen mit, ihre Stimmen paßten nicht zu dieser Art Musik. Aber sie hatten etwas gefunden, um die Zeit bis zum Abendbrot herumzubringen. Selbst Joachim, dem bei den Stones oder T. Rex nichts anderes einfiel, als» Tonika, Dominante, Subdominante «zu flüstern, bis der Titel vorbei war, grölte in seinem Stimmbruch-Tenor mit.
Heute, in der zweiten Stunde, im Deutschunterricht, hatten sie Gorkis» Mutter «behandelt und über literarische Helden gesprochen. Die Deutschlehrerin hatte auch David und Goliath als literarische Helden bezeichnet.»Solange sie nicht im Neuen Testament herumfuhrwerkt«, hatte Joachim in der Pause gesagt,»soll sie ruhig ihre literarischen Helden sammeln. «Worauf Titus geantwortet hatte, daß Leute mit Charakter im Neuen Testament ziemlich rar seien.
Wie er das denn meine?
«Wenn sich einer der beiden Schächer am Kreuz plötzlich bekehrt — mir kommt das nicht richtig vor. Ich finde«, hatte Titus gesagt,»den, der weiter spottet, besser, natürlicher.«
«Warum?«
«Der hat doch nichts mehr davon, daß er rumrüpelt.«
«Er spuckt auf einen, dem es schlechter geht!«
Und als Titus nichts erwidert hatte, war er von Joachim belehrt worden:»Der andere weiß, er hat Unrecht begangen, Jesus aber ist unschuldig. Der erkennt den Unterschied. Warum soll der andere besser sein?«
Auch darauf war Titus die Antwort schuldig geblieben.
«Wer hat dir denn gesagt, daß der andere besser ist?«
«Niemand«, hatte Titus geantwortet,»niemand!«, und plötzlich hinzugefügt:»Ich soll einen Kurzvortrag halten über den Aggressor Bundeswehr, am Montag.«
Joachim hatte ihn angesehen, als erwarte er noch etwas, und schließlich gesagt:»Na, dann halt ihn mal schön, deinen Vortrag.«
Die Mädchen saßen dicht nebeneinander auf Martins Bett. Die drei Sänger schienen mit sich und den Plattenhüllen beschäftigt.
Am Himmel waren die Farben verschwunden, nur ein schmaler heller Streifen hielt sich, wie ein Lichtspalt, bevor die Tür zuschlägt.
Wieso war er sich so sicher, daß er da draußen Bernadette gesehen hatte? Es konnten genausogut ihre Mutter und ihr Vater gewesen sein. Saß Bernadette nicht nebenan auf ihrem Zimmer und aß Kuchen? Ja, er war nun überzeugt, nicht sie zwischen den runden Beeten gesehen zu haben. Das nahm eine Last von ihm und machte ihn froh.
[Brief vom 24. 5. 90]
Er drehte sich um. Sie sangen noch immer dasselbe Lied.»Gestern war der Ball, da sah ich zum ersten Mal dich und deinen Gang …«War das eine Anspielung auf Bernadette und ihn?
Titus setzte sich zu den Mädchen aufs Bett. Wie gern wäre er selbst so herumgesprungen. Er würde sogar besser herumspringen als die drei, aber er konnte nicht singen, obwohl er den Text kannte:»Mir schwanden die Sinne, mir wurde schwarz vor den Augen, mir wurde lila und grün, dann sah ich Möwen, Schwäne und Kraniche ziehen …«
Dieses Vorrecht, ein Organ der Musik zu sein, über das diese drei wohl nie ein Wort verloren, das aber ihre Selbstgewißheit, ihre Sicherheit erklärte, war ihm verwehrt. Titus versuchte, wenigstens ein gutes Publikum abzugeben, und applaudierte den dreien, die nicht mehr aufhören wollten und so laut waren, daß sie später sogar den Gong, der zum Essen rief, überhörten. Marcus, der kleine Bruder von Bernadette, hatte Tischkarten geschrieben und Bernadette die Servietten in dreizackige Kronen verwandelt. Rudolf Böhme zündete Kerzen an und verteilte die Leuchter im Raum, eine Tätigkeit, die seinen kleinen Schritten eine Berechtigung gab. Nachdem die Hunde der Dunkelheit, wie Rudolf Böhme sich ausdrückte, aus den Ecken vertrieben waren, begrüßte er alle, schloß selbst die Küchentür und stellte sich hinter seinen Stuhl.»Mein lieber Martin«, begann er.
Titus lächelte. Er sah zu Martin und dann von einem zum anderen, aber außer ihm selbst hielt es offenbar niemand für übertrieben, das Geburtstagskind mit einer Rede zu ehren.
Mit besonderem Ernst sah Titus nun zu Rudolf Böhme auf, der mit erhobenem Kinn, geschlossenen Lidern und wie im Traum zuckenden Wimpern sprach, während seine Finger die Tischkante entlangtasteten und daran zu arbeiten schienen, das Tischtuch darüberzuspannen. Im Kerzenlicht ähnelten die Geschwister einander und ihrer Mutter noch mehr, als trügen sie alle die gleiche Perücke. Bernadette hatte im selben Moment aufgeblickt, da ihr Vater Titus mit Namen nannte.
Gelächter beendete die Rede, weil die Gläser, nach denen zu greifen sie Rudolf Böhme aufforderte, noch nicht gefüllt waren, und Rudolf Böhme, sich selbst unterbrechend, rief, er habe doch gewußt, daß da etwas fehle.
Kaum hatten sie angefangen zu essen, war auch schon die Ketchupflasche leer gewesen. Trotzdem wurde die Flasche weiter herumgereicht, eine schier unerschöpfliche Albernheit, die ihren Höhepunkt erreichte, als Rudolf Böhme arglos mit erhobenem Haupt um den Ketchup bat und nach einigen erfolglosen Versuchen bemerkte, ihnen sei wohl der Ketchup ausgegangen.
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