Unruhig, als zählte er die Worte, bewegte er den Füller. Titus wollte weiterschreiben, seinen Gedanken hinterher, die, wenn sie zu schnell kamen, in Stichworten auf einem Schmierzettel festgehalten werden mußten. Er hatte Lust, die Seiten mit gleichmäßigen Schwüngen zu füllen, zu schreiben, bis er alles gesagt hatte und die blaue Tinte aufgebraucht war.
Seit er in Laubegast in die Straßenbahn gestiegen war und, geblendet von den Scheinwerfern der Autos, Gunda Lapin aus den Augen verloren hatte, sehnte er sich nach diesem Moment, in dem er nur die Kappe vom Füller zu nehmen brauchte, um zu schreiben und dergestalt zu erfahren, was mit ihm geschehen war.
Heute abend hatte er begriffen, daß er endlich aufhören mußte, wie blind herumzulaufen, fühllos und unselbständig, einer, der nur das Leben lebte, das man ihm vorsetzte, ein völlig unmögliches Leben!
Vorgebeugt saß er im Licht der Tischlampe und blickte auf die Spiegelung in den Fensterscheiben, die das Zimmer so groß wie den Raum einer Villa erscheinen ließ. Die Plakate hinter ihm glänzten. Von außen drangen nur die roten Markierungslichter des Wasserturms in sein Bild. Titus duckte sich, um eine Unebenheit der Scheibe in die Blickachse mit dem roten Punkt zu bringen, der darin aufblühte.
Sein Füller bewegte sich langsam:»Gunda Lapin«, schrieb er. Wieder setzte er die Feder auf. Er mußte sich beherrschen, die beiden Worte nicht einfach zu wiederholen, eine Zeile, ein ganzes Blatt mit» Gunda Lapin Gunda Lapin «zu füllen.
Er wünschte sich, all das, was er zu schreiben hatte, stünde bereits da, so daß er einfach nachlesen könnte, was er erlebt hatte, beginnend mit dem Weg von der Straßenbahn hinunter an die Elbe, die Wegskizze in der Hand das Laubegaster Ufer entlang, an dem sich alte Vorstadt- und Gartenhäuser aneinanderreihten. Von hier aus übersah man das gegenüberliegende flache Ufer, das bis zu den Ausläufern der Elbhänge kaum bebaut war. Die kugeligen Baumkronen hatten nur knapp das hohe Gras überragt, als wären die Stämme umflutet und ihre Schatten die Spiegelungen auf dem Wasser gewesen. Mit jedem Schritt war er der Biegung des Flusses näher gekommen und hatte weiter stromaufwärts gesehen, zum Elbsandsteingebirge, zum Lilienstein und zum Königstein, zwischen denen sich die Elbe hindurchwand, darüber blaßblaue Wolken, deren Ränder sich dunkel vor dem gelblichweißen Licht abgehoben hatten.
Das letzte Haus vor der Schiffswerft, das auf der Wegskizze mit einer auf dem Dach tanzenden Frau und der Sprechblase» Hier bin ich «gekennzeichnet gewesen war, hatte sich hinter Bäumen und Sträuchern verborgen. Auf sein Klingeln hatte er ein Geräusch gehört, als würden zusammengenagelte Bretter auseinandergestemmt, etwas zwischen Quietschen und Knarren, und dann eine Stimme.
Gunda Lapin hatte das Gartentor aufgeschlossen und ihn nicht aus den Augen gelassen. In ihrer Fellweste, dem zu langen, sich am Saum aufrollenden Pullover, weiten Hosen voller Farbflecke, die sich abwärts bis zu den Filzschuhen immer mehr verdichteten, hatte sie vor ihm gestanden, halb Clown, halb Lumpensammlerin.
Der Weg zum Haus hatte sich zwischen Akazien geschlängelt. Es war gewesen, als hätte der Wind das Licht durch das Laub getrieben. Mit großen Schritten war Gunda Lapin vor ihm hergegangen, den Schlüsselbund wie einen Eimer in der Rechten.
Über eine blankgescheuerte, sich um hundertachtzig Grad windende Holztreppe waren sie in die erste Etage gelangt und von dort einer Stiege steil hinaufgefolgt. Oben hatte sich rechts die Küche befunden, nicht größer als die Speisekammer zu Hause. Die Abwaschschüssel hatte unter der Dachluke gestanden, und die Sonne hatte genau den Teller- und Tassenberg darin getroffen, der von einer Art Palisadenzaun aus Gabeln und Löffeln geschützt gewesen war. Es war nichts Bemerkenswertes dabei, doch selbst das sich auf dem Boiler drängende Sammelsurium aus Fit-Flasche, Eishampoo, Lippenstift, grünem West-Deo, Zahnbürste und einem Becher hatte er mit einer Klarheit und Genauigkeit registriert, als sei er auf der Suche nach Indizien gewesen, ohne sagen zu können, wofür. Gunda Lapin war die erste Erwachsene gewesen, die er ohne Begleitung seiner Mutter besucht hatte. Ihre Behausung hatte aus zwei Kammern bestanden. Nur weil die Hälfte der Trennwand gefehlt hatte, hatten sie sich gegenübersitzen können, er auf dem unter dem zierlichen Schreibtisch hervorgezogenen Schemel und sie auf dem Sofa.
Er hatte gefürchtet, seine Hose könnte Spuren des Malheurs aufweisen, obwohl er sich vor dem Verlassen des» Toscana «Toilettenpapier in die Unterhose gestopft hatte. Ein Fetzen davon hatte plötzlich in der Straßenbahn zwischen seinen Schuhen gelegen.
Sie beschäftige sich gerade mit Kurt Tucholsky, hatte Gunda Lapin gesagt, und mit Franz Fühmann. Er hatte nicht verstanden, warum sie sich freiwillig mit Lesebuchautoren abgab. Seine Deutschlehrerin hatte gesagt, Tucholsky hätte ein zweiter Heine werden können, und Gunda Lapin hatte dem zu seinem Befremden zugestimmt.
Jetzt, am Schreibtisch, erschien ihm die Enttäuschung, die er angesichts des Ateliers empfunden hatte, lächerlich, als hätte so ein Haus einen lichtdurchfluteten Saal beherbergen können.
Er hatte einen niedrigen Raum mit verhängten Fenstern betreten und jenen Geruch wahrgenommen, der noch immer an ihm hing. Ein Teppich aus Farbspritzern hatte bis an die Bilder und Rahmen herangereicht, die die linke Hälfte des Raumes gefüllt hatten.
Rechts von der Tür war er auf ein kleines Podest gestiegen und hatte sich auf das dunkelrote, an Rücken- und Seitenlehne abgewetzte Kanapee gesetzt, ein Vorgang, der, so naheliegend und selbstverständlich er gewesen war, ihm gleichermaßen als Auszeichnung und Anmaßung erschienen war. Gunda Lapin hatte ihm ein Laken über die Hose gelegt, eine Schale mit Obst und Schokolade auf einen Hocker neben seine Füße gestellt und im Abstand von drei Metern — weiter entfernt war nicht möglich gewesen — mit ihrer Staffelei Aufstellung genommen.
Soweit war alles klar, bis dahin ließ sich sein Besuch ohne weiteres beschreiben. Garten, Haus, Wohnung, Atelier — alles war ein bißchen seltsam und fremd und verlockend gewesen.
Und dann? Gunda Lapin hatte ihn angeblinzelt, als hätte sie etwas Eigenartiges an ihm entdeckt. Er hatte ihrem Blick standgehalten, jedoch nicht mehr gewagt, nach der Schokolade zu greifen oder am Kaffee zu nippen.
Die Staffelei hatte nahezu flach vor ihr gelegen. Deshalb hatte sie die Pinsel an Stöcken festgebunden, die sie wie Ruten in der Hand gehalten hatte. Anstelle einer Palette hatte sie Näpfe benutzt, in denen sie die Farbe eilig verrührt hatte. Dabei hatte sie den Napf mit ausgestrecktem Arm von sich weghalten müssen, um mit dem verlängerten Pinsel hineinfahren zu können.
Titus sah wieder auf sein Spiegelbild in der Scheibe, das von den roten Lichtern des Wasserturms im Dreieck umgeben wurde. All diese Äußerlichkeiten zu beschreiben hielt nur auf, das war Kulisse und letztlich belanglos. Er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Außerdem würde er das Atelier niemals vergessen, es stand ihm in allen Einzelheiten klar vor Augen.
Warum aber schrieb er nicht auf, was passiert war? Je genauer er sich zu erinnern suchte, um so verschwommener und ungreifbarer wurde das Vorgefallene.
«Erzähl mir was«, hatte Gunda Lapin gesagt und dabei die ersten Striche über die weißgraue Leinwand gezogen. Ihre Lippen waren schmal geworden.
«Was soll ich denn erzählen?«
«Was dich beschäftigt, was du liest, was du in den letzten Tagen erlebt hast, welche Begegnungen dir wichtig waren!«
Hätte er von der Schule berichten sollen, von Petersen, Joachim? Warum versetzte ihn alles so schnell in Panik?
Gunda Lapin hatte aufgestöhnt, als hätte sie seine Gedanken lesen können. Ihre scharfen Züge waren ihm wie nachgezeichnet vorgekommen. Mal hatte sie geblinzelt, mal hatten sich ihre Augen geweitet.
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