Mit Hilfe einer handbetriebenen Winde wurde ein Baum aufgerichtet.
Der Erbprinz bat darum, so nah wie möglich an den Abhang geschoben zu werden. Als der Baum stand und von einigen Männern mit Seilen im Gleichgewicht gehalten wurde, trat ein Mann vor die Spielschar und rief:»Die Donareiche!«Im selben Moment erschien ein Schild über den Köpfen, das mit» Geismar/Hessen «neuerlich den Ort des Geschehens angab. Hastig trat nun der Mann mit dem Hut hervor — es war Mansfeld, der Pastor —, gefolgt von drei Begleitern, die ihre nervöse Gestik offenbar Bodyguards abgeschaut hatten. Als er die Axt unter seinem Gewand hervorholte und emporhielt, erhoben sich Jammern und Wehklagen. Die Bemühung war dilettantisch, die Wirkung enorm. 374
Der Baron zeigte auf den Mann mit Hut.»Das ist Bonifatius«, erklärte er überflüssigerweise und lächelte Robert zu. Bonifatius war auf die Knie gesunken, seine Stirn berührte im Gebet den Axtstiel, den er mit beiden Händen festhielt. Als er sich nun erhob, stiegen Schreie aus dem allgemeinen Wehe-Wehe auf, die so verzweifelt, so gellend waren, daß ich eine Gänsehaut bekam.
Schritt um Schritt wich die Menge vor dem Bonifatius mit der Axt zurück. Was ich für grandios gespielte Nervosität hielt, erwies sich Sekunden später als eine tatsächliche Befürchtung der Akteure. Denn als Bonifatius die Axt in den Baum schlug — es herrschte absolute Stille —, zerbarst der Stamm in vier Teile, die gleichzeitig, von Seilen gezogen, zu Boden fielen. Das wilde Geschrei des germanischen Heidenvolkes galt nicht so sehr dem Spielablauf als vielmehr der Angst um ihren hangaufwärts postierten Mitspieler, den ein Viertel des Baums knapp verfehlt hatte. Doch da ihm offenkundig nichts passiert war und er wie alle anderen niederkniete und zu dem Kreuz aufsah, das Bonifatius nun anstelle der Axt in Händen hielt, wollte auch von uns niemand etwas Bedenkliches darin sehen.
Außerdem setzte ein Choral ein. Ich könnte schwören, auch ein Orchester gehört zu haben. Mehr und mehr Heiden sanken auf die Knie und erhoben flehend die Hände zu ihrem neuen Gott.
Noch bevor der Gesang völlig verklungen war, verkündete der Erzähler mit seinem gewaltigen Baß den Baubeginn der Kirche.
Das war der Startschuß zu einem Wettrennen. Vier Mannschaften hoben die vier im Kreuz liegenden Stämme auf und stürmten bergan, als ginge es gegen ein Stadttor. Ihr Ziel konnte nur die Kapelle hinter uns sein, die frisch gestrichen, doch nicht neu verputzt worden war. Im Gras und auf den Steinen hatten die Maler deutliche Spuren hinterlassen.
Ohne uns eines Blickes zu würdigen, keuchten die bekehrten germanischen Männer, Frauen und Kinder vorüber. Aus der Nähe betrachtet, wirkten sie filmreif präpariert, das wilde Haar, die zerschundenen Arme, die bis weit über die Knöchel schlammverkrusteten Füße und Beine. Wir durften dankbar sein, von diesem Haufen in seinem Spielwahn nicht überrannt zu werden. Sie machten sich an der Kapelle zu schaffen, indem sie die Stämme an vorbereiteten Schellen neben dem Eingang und an der Apsis befestigten.
Die Sonne stand sengend am Himmel, bei uns blieb es angenehm kühl. Der Erbprinz, der dem Geschehen gespannt gefolgt war, wehrte Fragen nach seinem Wohlbefinden lächelnd ab.
Inzwischen waren die Darsteller wieder auf ihre vorherigen Positionen zurückgekehrt. Geschah es, um die Dramatik zu steigern oder die Bedeutung des Ereignisses zu unterstreichen, jedenfalls rückte man näher an uns heran, und eine Frau, die das Schild» Dokkum — Pfingstfest 754«über der Schulter trug, nahm keine zehn Meter von uns entfernt Aufstellung.
Als sich Bonifatius ihr mit einigen seiner Getreuen genähert hatte — er lief jetzt langsamer und seinem Alter entsprechend tief gebeugt —, wurde ihm ein großes Buch überreicht, was ihn fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Seine drei Getreuen stützten ihn liebevoll und sahen flehentlich zu dem Erzähler hinüber, der daraufhin verkündete:»Sie warten auf die Frischgetauften!«
Der Haufen hatte sich geteilt. Rechter Hand, hier standen mehrheitlich Frauen, erklang ein heller Lobpreis des Herrn, von der linken Seite war ein Rhabarber-Rhabarber-Gemurmel zu hören, das die Bezeichnung» Barbaren «klanglich nahelegen sollte. Bonifatius, uns seitlich zugewandt, richtete sich bereits erwartungsvoll auf und schien den Frauen entgegenkommen zu wollen, als von hinten fürchterlich zottige Gestalten heranstürmten und mit wenigen Hieben die Begleiter des Apostels niedermachten. Aus Lobgesang wurde Wehklage.
Alle Aufmerksamkeit galt nun dem sich zu voller Größe aufrichtenden Bonifatius. Der hielt den Angreifern, die vor seiner Erscheinung zunächst zurückgewichen waren, das große Buch entgegen. Dann aber trat der wüsteste der wüsten Gesellen hervor — ein Schwert durchfuhr das Buch und drang dem Heiligen mitten ins Herz. In der atemlosen Stille, die dem folgte, hörte ich nur den Wind im Gras und Astrids Winseln. Wir alle waren mit den Akteuren erstarrt. Ein paar weiße Haarsträhnen des Erbprinzen tanzten auf und ab.
Bonifatius wankte, hielt sich aber noch aufrecht. Langsam sank er dann auf die Knie, seine Augen hoben sich gen Himmel. Schließlich fiel sein Oberkörper nach vorn und begrub das durchstochene Buch, das ihn nicht hatte retten können, unter sich. Ein höchst dissonantes Wehgeschrei brach aus, in das die Barbarendarsteller, wieder in christliches Volk zurückverwandelt, einstimmten.
Mansfeld, der Pfarrer, gut erkennbar an dem breitkrempigen Hut, hielt plötzlich das silberne, mit Edelsteinen besetzte Handreliquiar empor. War es Zufall oder Berechnung — im Sonnenlicht schien es zu erglühen und blendete uns so stark, daß auch ich die Hand vor die Augen nahm und mich abwandte. Da sah ich, daß fast alle, die mit uns das Schauspiel verfolgt hatten, niedergekniet waren. Die wenigen, die noch standen, waren zumeist ältere Leute. Astrid sprang schwanzwedelnd zwischen den Gläubigen hin und her, wohl in der Hoffnung, man wolle mit ihr spielen.
«Spielen Sie mit«, zischte mir der Baron von unten zu. Nach einigem Zögern gab ich nach und kniete mich hin, was ich dann allerdings als überraschend entspannend und angenehm empfand.
Singend hatte sich die Menge zu einem Zug formiert, dem das Handreliquiar feierlich vorangetragen wurde. Immer wieder brachen sich die Sonnenstrahlen auf ihm und sandten uns noch Signale, als der Gesang schon nicht mehr zu hören war und wir uns ganz der Stille und dem Anblick der hinab ins Land ziehenden Prozession überließen. Das Buch, darüber war nun Zeit genug nachzudenken, hatte Bonifatius nicht das Leben retten können, aber am Ende stand es doch im Zeichen eines Sieges. 375
Nun wird wohl alles gut werden. Wir erwarten Euch!
Seid umarmt
von
Eurem Enrico
Liebe Nicoletta!
Wie Sie sehen, habe ich eine neue Adresse und bewohne nun vier Zimmer, dessen kleinstes größer ist als mein bisheriges Wohnzimmer. Kämen Sie in den nächsten Tagen oder Wochen, so fänden Sie mich auf der frisch begrünten Veranda, von der ich einen traumhaften Blick auf Stadt und Schloß habe. Sie sähen Altenburg und glaubten doch nicht, daß es Altenburg ist. Zum Haus gehört ein großer Obstgarten, umrankt von einer Dornröschenhecke.
Soviel zur Gegenwart. An deren Beginn hoffe ich Sie mit dem heutigen Kapitel führen zu können.
Leider gab es noch keine Gelegenheit, Ihnen von Tante Trockel, Roberts Kinderfrau, zu erzählen. 376Jährlich veranstaltete sie ein» Neujahrsessen «für uns. Manchmal spielte sie uns dann auch auf dem Klavier vor.
Nachdem mir Michaela versprochen hatte, nicht lange zu bleiben, tat ich ihr den Gefallen und begleitete sie zu Tante Trockel, Robert war zum Geburtstag seines Freundes Falk eingeladen.
Als wir aus dem Bus stiegen, sahen wir noch, wie Tante Trockel hinter der Balkontür verschwand. Michaela beschleunigte ihre Schritte, der übliche Wettlauf begann. Im selben Moment, da Tante Trockel die Haustür öffnete, drückte Michaela auf den Klingelknopf.
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