Massimo, Pringel und nun auch Kurt bewachten weiterhin Marion und Jörg und stellten sich gemeinsam mit ihnen auf der Seite des Barons an.
Neben Vera wartete ein kleiner Mann im Rollstuhl, dessen weißes Haupthaar in wirren Strähnen herabhing. Er beugte sich in seinem Stuhl vor und grüßte so übertrieben wie ein Kind, das aufgefordert wird, einen Diener zu machen. Von seinem Gebrabbel erschloß sich mir nur hin und wieder ein Wort. Es war der Prophet. Ohne seinen Bart erkannte ich ihn nur an seinen von der Brille grotesk vergrößerten Augen. Er hatte einen Schlaganfall, sein Verstand soll der alte sein, aber Sprache und Körper lassen ihn im Stich. Der Prophet schien ungehalten zu werden, als der Erbprinz ihn nicht verstand. Niemand verstand ihn. Ich sagte zum Erbprinzen, daß ich diesem Manne hier, daß ich Rudolph Franck in gewisser Weise das verdankte, was ich heute sei.
Dann kamen ein paar Großkunden, die wöchentlich mindestens eine halbe Seite schalten, wie zum Beispiel Eberhard Hassenstein. Die Hand des Erbprinzen verschwand in der behaarten Hassensteinschen Pranke. Sein Vater, der die Kohlehandlung Benndorf & Hassenstein 1934 mitbegründet habe, sei kurz nach der Enteignung 1971 gestorben. Hassenstein zog die Nase mehrmals hoch, eine Träne rann ihm bis zum Kinn.
Ich stellte das Ehepaar Offmann vor, Möbelhaus Offmann in dritter Generation, gegründet 1927, Roswitha Offmann und Klaus Kerbel-Offmann.
Du wirst sie alle kennenlernen, in jeder dieser Familien steckt ein Roman. Doch wer sie auch immer sein mögen, mir kam es vor, als schlössen sie in jenem Moment, da sie vor den Erbprinzen traten, einen Vertrag mit uns. Zuvor waren sie vielleicht aufgeregt gewesen, hatten sich dies und das vorgestellt, aber keiner hatte wohl geahnt, wie sehr sie die Begegnung mit dem Erbprinzen erschüttern würde. Als sie ihm die Hand reichten, brach etwas in ihnen auf — und was immer es auch war, es überraschte sie und band sie an uns.
Selbst Pfarrer Bodin, der wegen der Horoskope im» Wochenblatt «gegen uns gewettert hatte, befeuchtete seine tüllenförmige bläuliche Unterlippe und sah uns erwartungsfroh wie ein Kind an, als er an der Reihe war. Pfarrer Mansfeld, der katholische Berserker, der heute noch seinen großen Auftritt als Bonifatius haben wird, ließ es sich nicht nehmen, dem Erbprinzen eine Flasche Kräuterlikör zu schenken, und flüsterte mir nach seiner Audienz zu, auch für uns halte er hochprozentige Präsente bereit.
Piatkowski, der CDU-Bonze, der nun doch wieder unter den Stadtverordneten sitzt, hatte seine Frau geschickt. Die genoß den Empfang und sprach so heiter und herzlich, ja regelrecht charmant mit dem Erbprinzen, daß dieser sich später nach ihr erkundigte.
Düster und am Rande des Eklats war der Auftritt der Frau vom Galluswirt. Sie machte einen großen Knicks, landete, beabsichtigt oder nicht, auf den Knien und rief:»Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!«Ich wußte nicht, daß der Galluswirt vor drei Tagen Selbstmord begangen hatte. Während der Baron sein Beileid bekundete und ich den Erbprinzen über die frühere Bedeutung des Galluswirtes aufklärte, rief sie immer wieder:»Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!«
Von denen, die ich auf die Liste gesetzt hatte, waren bis auf Ruth, die Tochter meiner Wirtin Emilie Paulini, Jan Steen und den Gießener Zeitungschef, der sich aber entschuldigen ließ, alle gekommen.
Froh war ich, daß Wolfgang, der Hüne, und seine Frau erschienen. Wie oft wollten wir uns schon treffen! Nun werde ich sie mit Vera besuchen. Auch Blond und Schwarz, zwei Polizisten, kamen. Wir haben uns im Herbst kennengelernt.
Im Saal wurden schon Häppchen, Sekt und Orangensaft herumgereicht, als Marion und Jörg ihre Karten vorzeigten.
Ich glaubte, die Selbstbeherrschung des Barons sei der Grund für die Liebenswürdigkeit, mit der er auch die beiden begrüßte. Denn daß er die Zeitung in Marions Händen nicht erkannt hätte, schien mir unwahrscheinlich. Marion ließ all ihre unterdrückte Aggressivität an dem zusammengerollten Sonntagsblatt aus, eine Geste, die sich mit» den Hals umdrehen «am besten beschreiben läßt. Dann starrte sie das Werk ihrer Selbstvergessenheit an und versuchte das Papier zu glätten. Jörg strich Marion mit dem Handrücken über die Wange. Um es kurz zu machen: Der Baron stellte die beiden vor. Jörg begrüßte den Erbprinzen mit» Eure Hoheit «und verneigte sich tief vor ihm. Dann trat er zur Seite und überließ Marion das Feld. Die beugte sofort wie ein Opernheld ein Knie und hielt dem Erbprinzen die Zeitungsrolle hin.»Schauen Sie selbst. Ich weiß nicht, warum so etwas getan wird. Aber alle ändern plötzlich ihre Biographie. Niemand spricht mehr die Wahrheit«, sagte sie monoton und mit tiefer Stimme. Es folgten noch ein paar Sätze dieser Art, völlig absurdes Zeug. Und natürlich teilte sie dem Erbprinzen mit, warum sie dem» Herrn Türmer «verboten habe, sie zu duzen, denn der sei ein Betrüger und gänzlich verblendet. Sie jedoch, Marion Schröder, lehne es ab, für mich, diesen Schatten, zu beten.
Der Erbprinz streckte die Hand aus, er wollte, daß sie aufstand — der halbe Saal glotzte bereits. Sie mißdeutete das. Schnell wie ein Vogel, der nach etwas pickt, küßte sie seine Hand, erhob sich und rief:»Sehen wir uns also bald!«Jörg folgte ihr, holte sie kurz vor der Tür ein und schlang den Arm um ihre Schulter.
Am meisten überraschte mich Kurt. Ich hatte ihn für Mitte Fünfzig gehalten, aber Kurt ist erst Anfang Vierzig. Seine Frau ist höchstens Mitte Dreißig und so zart, daß ich sie für seine Tochter hielt. Als ihren Beruf las Michaela» Fleischerin «vor.»Fachverkäuferin für Fleisch- und Wurstwaren«, berichtigte Kurts Frau mit fester Stimme, und das blieb auch das einzige, was ich aus ihrem großen schönen Mund vernahm.
Pringels Frau, eine Apothekerin, überreichte ein winziges Schächtelchen, in dem sich ein vierblättriges Kleeblatt befand, das sie auf der Wiese des Schloßhofes gefunden habe. Ihnen habe es in den letzten Tagen so viel Glück gebracht, sie wollten es nun weitergeben.»Unser rasender Reporter«, sagte der Erbprinz, und Pringel, der seinen Bart gestutzt hatte, sagte:»Alles, alles Liebe!«
Als wir dann zum Essen hinüber in den großen Spiegelsaal gingen, fragte ich den Baron, wann er denn die Zeitung in Marions Hand entdeckt habe. Mit der sei sie doch schon gekommen, sagte er. Sie habe das Sonntagsblatt als Fächer benutzt, was doch hoffentlich nicht meine Eitelkeit gekränkt hätte. Der Baron verstand überhaupt nichts! Er schlug sogar vor, am besten jetzt gleich einen ganzen Stapel Sonntagsblätter an der Tür des Spiegelsaales zu deponieren. Ich sei ein Angsthase, rief er und fragte dann, wovor ich mich denn jetzt noch fürchtete.
Ich muß los!
Seid umarmt
Euer E.
Liebe Nicoletta,
ich habe mir mit dem Schreiben zuviel Zeit gelassen, ich will nicht länger meiner Vergangenheit nachhängen. Nicht, daß mir der Weltmeistertitel zu Kopf gestiegen wäre. Aber ist nicht die Freude über diesen Sieg nur der greifbare Ausdruck eines viel größeren, umfassenderen Glücks? Nie war mein Wunsch stärker als heute, an Ihrer Seite dieses neue Leben zu beginnen. Da aber meine Briefe ihren Zweck zu verfehlen scheinen, schwinden meine Hoffnungen — und nichts anderes treibt diese Zeilen voran. 368
Ich muß es aber zu Ende bringen, so wie die Verlierer ja auch nicht vor Ablauf der neunzig Spielminuten den Platz verlassen dürfen. Also zurück zu den ersten Tagen dieses Jahres.
Am liebsten hätte ich mein nächtliches Kreuzwegabenteuer für einen Traum gehalten, so peinlich war es mir im Rückblick. Und zugleich war ich befriedigt, es gewagt zu haben. Doch das, was ich dort gedacht und gefühlt hatte, war auch in der Nacht zurückgeblieben.
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