»Gehst du gern in den Kindergarten?«
Alle Erwachsenen stellten dieselbe Frage.
»Ja, Ma'am.«
»Sag ihr, was du am liebsten hast«, redete Juts ihr zu.
»Pferde.«
»Nein, im Kindergarten.«
»Malen. Bei Mrs. Miller dürfen wir mit Fingerfarben malen.«
»Wie schön.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte Nickel. Die Grundzüge gepflegter Konversation brachten ihr die Mittwochstee-Damen und ihre Angehörigen bei. Der Mittwochstee war der Vorläufer des Anstandsunterrichts und der darauf folgenden Benimmschule; die Teilnahme war ein Muß für Kinder, deren Eltern Wert auf gute Manieren legten.
»Portland, Oregon.«
»Oh.« Sie hatte keine Ahnung, wo das sein könnte.
»Das liegt ganz auf der anderen Seite am Pazifischen Ozean.«
»Oh.« Nickel überlegte angestrengt, was sie noch sagen könnte. »Gibt es in Portland Pferde?«
»Ja. Aber die Stadt ist für ihre Rosen berühmt. Sie liegt an einem großen Fluß, der ins Meer fließt. Wenn du größer bist, kannst du sie ja vielleicht einmal besuchen.«
»Das wäre schön.« Sie verstummte. Ihr Gesprächsstoff war erschöpft, und jetzt brannte sie darauf, draußen zu spielen, obwohl es kalt war. »Momma, darf ich meine lange Hose anziehen und rausgehen?«
»Ja, natürlich.« Juts zündete sich eine Chesterfield an, nachdem sie Rillma eine angeboten hatte. Rillma hatte abgelehnt.
»War nett, Sie kennen zu lernen, Rillma. Haben Sie ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen zum miteinander Spielen?«
Rillma lächelte. »Nein.«
»Tschüs.« Gefolgt von Katze und Hund sauste sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie zog sich in Windeseile um, rannte hinunter und zur Tür hinaus.
Die beiden Frauen warteten, bis die Haustür zugefallen war.
»Sie hat gelernt, nicht mehr so mit den Türen zu knallen.«
»Sie ist ein süßes Kind.« Rillma lächelte verkniffen.
»Sie war für mich bestimmt.« Die Röte schoß Julia in die Wangen.
»Das ist wahr.«
»Weiß irgend jemand in Portland Bescheid?«
»Nein.«
»Gibt ja auch keinen Grund.«
»Nein. Ich weiß nicht mal, ob ich's meinem Mann erzählen würde. Das heißt, falls ich überhaupt heirate.«
»Ein schönes Mädchen wie du heiratet bestimmt.«
Rillma senkte die Stimme. »Ich traue den Männern nicht.«
»Wer hat was von Trauen gesagt?« Juts stieß den Rauch durch die Nase aus.
»Wie kann man jemanden lieben, dem man nicht traut?«
Juts zuckte die Achseln. »Man tut es einfach, Rillma. Sie können nichts dafür, daß sie sind, wie sie sind, so wenig, wie wir was dafür können, daß wir sind, wie wir sind - glaube ich.«
»Jetzt bin ich ins Fettnäpfchen getreten, nicht?«
»Mein Gott, Rillma, wir sind hier in Runnymede. Jeder weiß alles über jeden. Ich hab's überlebt. Du hast es überlebt. Man macht einfach weiter.«
Rillma schlug die glänzenden braunen Augen nieder, dann hob sie den Blick. »Ich möchte lieber allein sein.« Sie atmete hörbar ein. »Du weißt, wie das ist, wenn einem alles Mögliche durch den Kopf schießt? Als das alles passierte, dachte ich, mein Leben wäre vorbei.« Sie hielt inne. »Aber irgendwie hat sich dann alles eingerenkt.«
Rillma stand auf und streckte die Hand hin, doch statt eines Händedrucks umarmte sie sie. »Danke. Ich hatte gefürchtet, du würdest mich nicht hereinlassen.«
Juts hielt ihre Zigarette von sich, um Rillma nicht anzusengen. »Du kannst mir schreiben. Ich schreibe zurück.«
»Mach ich.«
Als Rillma sich entfernte, sah Juts ihr nach, wie sie den Bürgersteig entlang ging. Juts brach in Tränen aus, ohne zu wissen, warum, als die anmutige Gestalt im Nichts verschwand.
»Was hast du gemacht?« Louise stand mitten in Bear's Kaufhaus in York und befühlte den Spitzenstoff eines Büstenhalters.
»Ich habe ihr erlaubt, Nickel zu besuchen.«
»Das kannst du doch nicht machen.« Mit dem nächsten Atemzug fragte sie: »Weiß Chester Bescheid?«
»Natürlich.«
»Und er hat sich nicht aufgeregt?«
»Nein.«
Sie ließ den BH fallen. »Ihr seid beide nicht bei Trost. Blut spricht zu Blut. Ihr bringt euch in Schwierigkeiten.«
»Nicky war es schnurzegal. Sie war höflich und ist dann zum Spielen rausgelaufen.«
Louise schlug einen ernsten Tonfall an und unterstrich ihn durch viel sagendes Kopfschütteln. »Sie hat bei dem Kind nichts zu suchen. Sie hat es abgegeben. Nickel ist euer Kind.«
»Ich habe es nicht fertig gebracht, sie abzuweisen. Sie kann sich sowieso nicht um ein Kind kümmern, und Chessy und ich haben Nickel rechtmäßig adoptiert. Sie kann gar nichts machen.«
»Und wenn Nickel sie ansieht und sich selbst erkennt?«
»Nicky sieht Rillma nicht ähnlich.«
»Sie spricht schubweise, lange Pausen und plötzlich ein Ausbruch«, sagte Louise. »Das ist ungewöhnlich. Vielleicht stimmt was nicht mit ihr. Vielleicht weiß sie innerlich, daß sie nicht Blut von deinem Blut ist.«
»Über Pferde kann sie sprechen, Louise. Manchmal bist du ein richtiges Ekel.«
Inmitten von Spitzenschlüpfern - rosa, gelb, weiß und aufreizend schwarz -, gerieten sich Louise und Juts in die Haare. Die Kundinnen in der Wäscheabteilung sahen sich die unverhoffte Vorstellung an.
»Ekel? Ekel? Wer ist denn mit geliehenen Benzingutscheinen den weiten Weg in das dreckige Pittsburgh gefahren, um dein Baby zu holen? Wer hat sich mit Chester beim Fahren abgewechselt? Du hast einen Kurzschluß in der Birne! Du verstehst überhaupt nichts von Mutterschaft.«
»Halt die Klappe«, sagte Juts drohend.
»Außerdem hättest du Rillma Ryan nie, niemals erlauben dürfen, das Kind zu sehen!«
»Sag mir nicht immer, was ich zu tun habe.« Juts schlug sie mit einem Büstenhalter.
»Redefreiheit - wir sind hier in Amerika.«
»Verdammt noch mal, Wheezie, halt den Mund.«
Wheezie warf den Kopf zurück, als ihr der nächste BH ins Gesicht flog. »Du versuchst, mich meiner bürgerlichen Rechte zu berauben.«
»Nein, ich versuche, dir das Maul zu stopfen! Ich hab dich satt.«
Louise schnappte sich eine Hand voll Schlüpfer und lud sie auf Juts' Kopf ab. Einer blieb an ihrem Ohr hängen. Damenwäsche schwebte herab wie kleine seidene Fallschirme. Der Abteilungsleiter, ein gezierter Affe in braunem Anzug, kam durch den Gang gestürmt.
»Meine Damen, meine Damen.«
»Halten Sie sich da raus.« Juts warf einen Büstenhalter nach ihm.
Er zog ihn sich vom Gesicht; sein Ehering fing eine Sekunde lang das Licht der Deckenbeleuchtung ein. Verkäufer verließen ihre Posten, um ihm beizustehen. Mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge versammelt, und Frauen lasen die seidenen Prachtstücke auf. Die meisten in der Absicht, sie zu bezahlen. Einige nicht.
Man riß die zwei Schwestern auseinander und beförderte sie auf die Straße. Ein rosa Schlüpfer hatte sich zwischen den beiden oberen Knöpfen von Louises Bluse eingenistet. Sie stürmte die Straße hinunter.
»Diebin!« Juts zeigte auf das rosa Requisit.
Louise blieb stehen, entdeckte den Schlüpfer und kehrte um. Sie öffnete die Eingangstür zum Kaufhaus, ließ ihn huldvoll auf den Boden fallen und steuerte dann über den Platz auf die George Street zu.
»Du findest ja wohl allein nach Hause.«
Juts, hochrot im Gesicht, lief hinter ihr her. »Blechquasselstrippe!«
»Sei nicht so kindisch.«
Ein vertrautes, wenn auch runder gewordenes Gesicht lächelte sie an. Bunny Von Bonhurst kam den Schwestern auf dem Bürgersteig entgegen und winkte ihnen zu.
»Bunny.« Louise schaltete den Gesellschaftsgang ein und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe dich Jahre nicht gesehen.«
Bunny, in einem schicken beigen Kostüm, umarmte Louise und dann Julia. »Ich bin aus Salisbury gekommen, um Rollie und die Kinder zu besuchen.« Rollie war ihr Sohn. »Wie geht's euch denn so?«
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