»So, und wohin geht ihr, wenn ich fragen darf?« Louise sprintete zur Haustür.
»Laßt uns zur Lagerhalle fahren«, schlug Juts vor. »Chessy und Pearlie sind da draußen. Vielleicht haben sie was gefunden.«
»Und wenn es Leichen sind?« Louise schürzte die Lippen.
»Na, prima.« Maizie öffnete die Tür.
Louise flüsterte Juts zu: »Es scheint ihr besser zu gehen. Hat sie ihre Medizin genommen?«
»Nein, sie hat sie in den Ausguß gekippt.«
»Was?«
»Louise, darum können wir uns später kümmern. Es scheint ihr besser zu gehen. Konzentrieren wir uns auf das Positive.«
»Ich muß Dr. Horning anrufen.«
»Ruf ihn später an, komm jetzt.«
»Du hast leicht reden.« »Sie ist nicht krank. Wirklich nicht.«
»Los, kommt!«, rief Maizie; sie und Nickel saßen schon im Auto. Nickel hüpfte auf dem Sitz auf und ab.
»Moment noch.« Louise trat hinaus, dann flüsterte sie Juts zu: »Wenn sie nicht krank ist, was fehlt ihr dann?«
»Ich habe kein Wort dafür. Sie ist gegen eine Mauer gerannt, und jetzt muß sie sich unten durchgraben, drüberklettern oder mitten durchstürmen.«
»Und was zum Teufel soll das heißen?« Louise schnappte wütend nach Luft, weil sie geflucht hatte. »Wirklich, das macht mich ganz fuchsig.«
»Besser als gallig.«
Louise verzog das Gesicht. »Was hat sie dir erzählt?«
»Sie versucht herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Das ist nicht so sonderbar.«
»Sie wird heiraten und Kinder kriegen, das wird sie mit ihrem Leben anfangen, und in der Zwischenzeit kann sie ein bißchen Geld verdienen. Wenn sie Krankenschwester ist, lernt sie einen Arzt kennen. Das ist der Plan.«
»Dein Plan.«
»Julia, jemand muß ja für sie denken.«
»Kommt jetzt!«, rief Maizie und fügte dann hinterhältig hinzu: »Koller, koller, koller.«
Nickel stimmte ein.
»Ich sollte sie beide windelweich prügeln.« Louise stampfte zum Auto hinaus. »Werdet ihr wohl sofort aufhören!«
Julia hüpfte auf den Beifahrersitz. »Leichen, wir kommen.«
Als sie auf der gewundenen Straße zur Fabrik fuhren, flüsterte Nickel Maizie hinter vorgehaltener Hand zu: »Ich mach die Augen zu.«
»Was hat sie gesagt?« Louise lebte in ständiger Angst, etwas zu verpassen.
»Wenn dort Leichen sind, macht sie die Augen zu.«
Juts lachte. »Und was tut sie gegen den Gestank?«
Nicky zwickte sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nase, was alle zum Lachen brachte.
In der Fleischlagerhalle wurden keine Leichen zutage gefördert. Aber man hatte einen Raum ausgegraben, der durch einen Tunnel zu erreichen war. Noe und seine Frau Orrie sowie Fannie Jump Creighton, Harper Wheeler, Harmon Nordness, Chessy und Pearlie standen in der kühlen, mit Ziegelsteinen gemauerten Kammer.
Juts trat ein. »Die ist ja so groß wie eine Turnhalle!«
Vom Boden bis zur Decke stapelten sich Kanonenkugeln, Kartätschen, Kanister und Patronen. Es war ein Arsenal.
Louise und Maizie traten ein, ihnen blieb der Mund weit offen stehen.
Nickel lief zu ihrem Dad.
»Seht euch das an.« Fannie zeigte auf die linke Seite der Kammer.
Die ganze Ausrüstung trug den Stempel der Konföderierten, C.S.A.
»Und jetzt sehen Sie hierher.« Harper geleitete die Damen.
Die Munition trug den Stempel U.S.A.
»Dieser Mistkerl. Es stimmt, was man sich über ihn erzählte! Er hat im Krieg an beide Seiten verkauft«, ereiferte sich Juts. »Wenn Celeste das doch sehen könnte. Ihr Vater hat Cassius Rife verachtet.«
»Vielleicht machen sie es im Jenseits unter sich aus«, witzelte Harper Wheeler.
»Aber warum sollte sich jemand heute deswegen beunruhigen? Warum das Gebäude niederbrennen?«, fragte Louise.
»Wer weiß?« Harper schüttelte den Kopf. »Versicherung. Pearl Harbor hat ihnen den perfekten Zeitpunkt geliefert. Diese habgierigen Schweine. Sie haben so viel, aber sie wollten noch mehr.«
»Ich habe Julius angerufen. Er sagt, er weiß nichts von dieser Kammer«, teilte ihnen Harmon Nordness mit. »Rein gar nichts.«
Da die Rifes auf der Pennsylvania-Seite der Grenze wohnten, oblag es Sheriff Nordness, den Anruf zu tätigen.
»Vielleicht hat Brutus es gewußt und seinen Söhnen nichts gesagt oder es nur einem erzählt.« Pearlie überlegte. »Nee, sie haben es beide gewußt.«
»Ja«, sagte Chester. »Sie haben vermutlich Papiere des alten Herrn gefunden.« »Wen geht das heute noch was an?« Julia starrte auf das Zeug.
»Uns«, sagte Fannie Jump. »Uns alle. Wir sind aufgewachsen mit Geschichten, wie Cassius seine Millionen gescheffelt hat, aber niemand konnte etwas beweisen. Es war wie bei den Sklavenhändlern, so schlimm war es damals im Krieg, hat Celestes Daddy immer gesagt. Das ist achtzig Jahre her, also gar nicht so lange. Es ist, als würde man gleichzeitig an Hitler und Roosevelt Waffen verkaufen.«
»Was ist ein Sklavenhändler?«
Fannie antwortete Nickel: »Das ist einer, der die Schwarzen auf einem Schiff aus Afrika hierher gebracht und verkauft hat. Lange, lange vor diesem Krieg. Es waren meistens Schiffskapitäne aus Boston oder New York. Sie sind sehr reich geworden.«
Nickel lächelte. Sie lernte gern etwas Neues, doch oft war sie verwirrt. Wurde man verschifft und verkauft, wenn man böse war?
»Ich muß eine rauchen.« Harper Wheeler geleitete alle aus der Kammer und durch den Tunnel, der mit Kreuzbögen konstruiert war.
Maizie ging zu ihm. »Sheriff, es tut mir Leid, daß ich Ihnen Ärger gemacht habe.«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Alles vergeben und vergessen.«
Als sie wieder in den Regen hinaustraten, stellten sie sich im hinteren Teil der Fabrik unter, der von dem Brand nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen war wie der vordere. Harper wies Noe verschmitzt an: »Sie werden jetzt wohl Popeye anrufen müssen.«
Noe lächelte. »Hier gibt's kein Telefon.«
»Ich habe ein Funkgerät im Auto«, sagte Harmon Nordness.
»Ich geh mit Ihnen eine Wette ein«, sagte Harper zu Noe.
»Was für eine Wette?«
»Ich wette mit Ihnen, daß Julius Rife schon einen gewieften Burschen aus New York angeheuert hat, der für ihn mit Popeye spricht.«
»Das ist keine Wette. Das ist eine Tatsache«, sagte Juts.
Louise, Maizie und Pearlie, der froh war, daß es seiner jüngeren Tochter so viel besser ging, fuhren im Auto nach Hause.
Chessy, Juts und Nickel quetschten sich in ihren Wagen. Julia wollte zu ihrer Mutter fahren und ihr alles berichten, was geschehen war.
Die Scheibenwischer schabten hin und her. Nickel drückte die Nase am Fenster platt. »Koller, koller, koller.«
»Hör auf damit!« Juts langte über den Sitz und knallte ihr eine.
Der Spätsommer hielt an. Die Gewißheit, daß der Winter folgen würde, verlieh ihm seine besondere Süße. Ringfasanen tummelten sich in den Maisfeldern, und Wachteln tippelten durch niedriges Dickicht; Füchse rannten überall umher. Als Juts in Nikkels Alter war, hatte ihr Onkel - er war jetzt schon lange tot - sie einmal mit auf die Jagd genommen. Er züchtete englische Setter, wunderbare Jagdhunde, und an jenem Tag hatte er drei Fasane erlegt. Juts mußte weinen, als sie vom Himmel fielen, aber sie hatte sich nicht geweigert, sie zu essen.
Die Jahreszeiten lösten Erinnerungen an ganz besondere Ereignisse aus. Lieder taten dieselbe Wirkung. >Red Sails in the Sunset< erinnerte Juts an ihre Probleme mit Chessy wegen Trudy. Jedes Mal, wenn das Lied gespielt wurde, schaltete sie das Radio aus.
Die bunten Herbstblätter faszinierten Nickel. Sie las sie von der Erde auf, um sie aufzubewahren. Sie konnte sie schon unterscheiden: Pappeln waren leuchtend gelb, Zuckerahorn flammend rot und die meisten Eichenarten variierten von einem reinen Gelb bis zu Knallorange oder Braun. Die Weiden, inzwischen gelb, warfen ihre Blätter über dem alten Brunnen im Garten ab. Nickel kletterte mühelos hinauf, ihre bloßen Füße suchten einen Halt, und oben angekommen setzte sie sich auf den niedrigsten Ast. Sie lauschte dem Rauschen der Blätter, und einmal hockte auf einem Zweig über ihr eine Spottdrossel.
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