»Du hast keinen Grund zur Sorge.«
»Ich hab aber Sorgen«, widersprach Mary. »Wir haben so wenig Geld. Ich arbeite halbtags im Bon-Ton.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, du weißt, was du tust. Ich weiß überhaupt nichts. Ich fühle mich irgendwie verloren, auch wenn ich weiß, wo ich bin.«
Als sie sich dem Haus näherten, wurde Marys Schritt beschwingter, denn Billys verbeulter roter Lieferwagen kam um die Ecke gebogen.
»Was sagt er über mich?«, fragte Maizie düster.
»Nichts. Billy ist nicht so.« Mary überlegte einen Moment, dann sagte sie rasch, bevor er den Bordstein erreichte: »Was immer er in Okinawa gesehen hat.« Sie drehte die Handflächen nach oben, eine unwillkürliche Geste, und ließ den Gedanken unvollendet. »Kleinigkeiten prallen an ihm ab.«
»Nicht mehr so ein Draufgänger?«
»Er ist voller Tatendrang, aber er ist anders, seit.«
»Du hast Glück.«
»Deins wird noch kommen.«Maizie kollerte, dann kicherte sie. »Das ist gräßlich!«
Louise schlief in einem Korbsessel auf ihrer umzäunten Veranda. Das Plitschplatsch des Regens auf der Glyzine, die sich an den Verandapfosten hochrankte, hatte sie eingelullt. Doodlebug döste zu ihren Füßen.
Julia sah zu ihr herein, mit Nickel an ihrer Seite.
»Momma«, flüsterte Nickel, »soll ich ihr was vorsingen?«
Das Kind, eine Frühaufsteherin, kroch immer zu Juts und Chester ins Bett und weckte sie mit »Hoppe, hoppe, Reiter«. Sie sang mit ihrer hübschen Stimme selbst ausgedachte Reime über Yoyo, Buster, Vögel, Raupen und Pferde, die mit »Guten Morgen!« endeten.
»Nein.«
»Aber Momma, warum schläft sie? Jetzt ist keine Schlafzeit.«
»Sie ist müde.«
»Ist Maizie auch müde?«
»Ja, Maizie ist nicht ganz bei sich.«
»Ist Doodlebug müde?« Die Ohren des Boston Bullterriers zuckten vor und zurück, als Nickel seinen Namen nannte.
»Ja«, antwortete Juts gereizt. Sie nahm Nickel an der Hand und ging mit ihr von der Veranda in die Küche. Sie hatte Unmengen Kartoffelsalat und Biskuits für ihre Schwester gemacht. Die Speisen waren so weit abgekühlt, daß sie sie in den Kühlschrank stellen konnte. Jedes Mal, wenn Juts zu Besuch kam, beneidete sie Wheezie um ihren neuen Kühlschrank. Sie selbst benutzte noch einen Eiskasten.
Schlurfende Schritte in Pantoffeln kündigten Maizie an.
»Zeit für deine Medizin?«
»Ich schlucke diesen Scheiß nicht mehr«, erwiderte Maizie trotzig, dann bemerkte sie Nickel. »Verzeihung, Nicky. Ich habe ein schlimmes Wort gesagt.«
»Ich kenn auch ein schlimmes Wort.«
»Tatsächlich?«
»Deckchen.«
»Das ist kein schlimmes Wort.«
Als Maizie den Kühlschrank aufmachte, ging innen ein Licht an, das Neueste an Komfort. Sie nahm einen Krug Limonade heraus. »Möchte jemand?«
»Nein danke.« Juts lehnte sich an die Anrichte.
»Nick?«
»Nein.«
»Nein und weiter?«, sagte Juts streng.
»Nein danke.«
»Schon besser.«
»Maizie, der Doktor möchte, daß du deine Tabletten nimmst, bis sie aufgebraucht sind. Ist ja nicht mehr lange.«
»Stimmt.« Maizie warf die Tabletten in den Ausguß.
Juts griff in den Abfluß, zu spät. Sie behielt die Fassung.
»Dr. Horning stellt sicher noch mal ein Rezept aus. Ich rufe ihn an.«
»Nein. Ich bin nicht verrückt. Ich hab mich ausgezogen, aber ich bin nicht verrückt.«
»Ich zieh mich auch aus«, erklärte Nickel.
Das tat sie allerdings. An heißen Tagen erlaubte Juts ihr, barfuß in kurzen Hosen und ohne Hemd herumzulaufen.
»Nicky, willst du nicht« - Juts sah aus dem Fenster; es regnete stärker - »ins Wohnzimmer gehen? Tante Wheezie hat so schöne Bilderbücher.«
»Weiß ich.« Sie kannte sie alle auswendig.
»Tante Juts, sie kann ruhig hier bleiben. Ich kriege keinen Koller.«
»Der Doktor hat gesagt, wir sollen dich nicht zu viel fragen. Den Druck nicht noch erhöhen oder so. Ich weiß nicht.«
»Weißt du, was passiert ist?« Sie stellte das leere Limonadenglas auf die Anrichte. »Ich bin aufgewacht und konnte nichts sehen. Meine Augen konnten sehen, aber ich nicht. Völlige Leere.«
»So geht es uns allen dann und wann.«
»Ich habe kein Leben, Tante Juts.« Ihre Kehle schnürte sich zusammen. »Leer.«
»Natürlich hast du ein Leben«, entgegnete Juts.
»Weißt du was? Wenn ich Mutter angucke, denke ich, werde ich einmal so aussehen? Werde ich mich eines Tages so aufführen? Es liegt im Blut. Das macht mir solche Angst, daß ich nicht mehr geradeaus gucken kann. Nicky hat Glück gehabt.«
Den Kopf schief gelegt wie ein wißbegieriger Vogel sah Nikky sie mit ihren wachen braunen Augen an.
»Das will ich hoffen.« Doch Juts war beunruhigt. Was, wenn Nickel nun wie ihre Mutter würde oder wie ihr unsichtbarer Vater? Was, wenn ihr eigener Einfluß sich verflüchtigte und nicht mehr Spuren hinterließ als eine Parfümwolke?
»Tante Julia, wozu lebt man denn? Ich will nicht in diesem Kaff leben und sterben. Ich will nicht werden wie meine Mutter oder meine Schwester. Ehrlich gesagt will ich auch nicht werden wie Dad. Es ist so eng. Alles ist so eng.«
»Ich sage mir, wo ich bin, da ist die Welt.« Julia meinte es ernst. »Was hast du da oben erlebt?«
»Was habe ich hier erlebt?«, gab Maizie wehmütig zurück. »Nichts. Ich habe wohl gedacht, mein Leben würde so sein wie ein Film. Nicht wie das hier.«
»Hab Geduld«, riet ihr die, die sich selten geduldete.
»Warum? Wozu? Ich habe nicht mal einen Freund. Was soll ich machen, bis der Märchenprinz kommt?« Ihre hellblauen Augen trübten sich. »Mutter möchte, daß ich Krankenschwester oder Lehrerin werde. Krankenschwester? Ich will keine Bettpfannen wechseln, ich will nicht alten Männern den Puls messen oder Fremde baden. Ich will keine Menschen anfassen, die ich nicht kenne. Mutter meint, es ist ein anständiger Beruf und in meiner Freizeit kann ich Klavier spielen.«
»Und wie wär's mit Lehrerin?«
»Ich würde die Blagen umbringen.«
»Hm, du könntest Sekretärin werden oder im Bon-Ton arbeiten, das heißt, wenn sie Leute einstellen.«
Maizie schüttelte den Kopf.
»Ich will Cowgirl werden«, rief Nickel dazwischen.
»Still, Nicky«, schalt Juts sie milde.
»Ich kann arbeiten!« Nicky zeigte sich streitlustig.
»Ich spreche mit Maizie. Halt du dich da raus.«
Nickel stemmte die Hände in die Hüften. »Ich werde Cowgirl!« Ihre Augen funkelten. »Ich und Maizie.«
»Aber ja, Nicky«, besänftigte Maizie sie.
Nickel hob die Stimme. »Siehste!«
»Willst du wohl still sein.«
»Ist schon gut, Tante Juts. Laß uns hier verschwinden. Fahren wir irgendwohin.«
»Dann muß ich deine Mutter aufwecken.«
»Das mach ich.« Nickel hüpfte auf die Veranda und legte die Hände um den Mund. »Koller, koller, koller!«
Louise fuhr so schnell aus dem Korbsessel, wie Juts auf die Veranda gerannt kam. Juts packte Nickel am Arm und schlug sie fest auf den Hintern. Nickel zuckte zusammen, weinte aber nicht. Maizie krümmte sich vor Lachen.
»Mach das nie wieder!« Juts ließ Nickels Arm nicht los.
Louise blickte von Nickel zu Maizie. »Was ist hier los?«
»Es ist ansteckend«, johlte Maizie.
»O Gott, nein.« Louise griff sich an den Hals.
»Mutter, reiß dich zusammen. Ich hab bloß Spaß gemacht.«
»Das ist nicht lustig.« Louise, ganz gekränkte Würde, wandte sich an Nickel. »Du bist ein ungezogenes Mädchen.«
»Ich und Maizie gehen jetzt weg.« Nickel riß sich von ihrer Mutter los und stapfte zu Maizie. »Komm.«
»Bis dann.« Maizie nahm sie an der Hand, winkte den Schwestern zu und wollte zur Tür.
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