»Mein Gott, sie ist noch keine vier Jahre alt, und du hast sie schon verheiratet.«
»Jemand muß ja vorausdenken. Du bist wie die Heuschrecke. Ich bin wie die Ameise.«
»Jetzt sind wir auf einmal Insekten.«
»Ich weiß, was gut ist. Habe ich dir nicht gesagt, daß Chester Smith auf keinen grünen Zweig kommt? Ihr zwei werdet bald kein fahrendes Auto mehr haben, ihr werdet eure alte Karre schieben müssen. Habe ich Mary nicht dasselbe gesagt? Wenn Pearlie Extra Billy nicht eingestellt hätte, würden sie auf der Straße betteln gehen. Habe ich es ihr nicht gesagt?«
»Das hast du allerdings.« Julia wurde langsam wütend.
»Und habe ich Maizie nicht gesagt, sie soll nicht nach New York gehen? Sie soll so eine Dummheit gar nicht erst in Betracht ziehen? Nein, sie wollte nicht auf mich hören. Und was schreibt sie mir jetzt? Daß sie aufs College gehen will, aber keines, das der Kirche angegliedert ist. Was ist denn das für ein Wunsch? Was würde mich das kosten? Ich weiß, was gut für sie ist.« Sie hielt inne. »Nicky muß lernen, wo sie hingehört. Das Leben ist viel leichter, wenn man das weiß. Sie wird eine zweite Rillma Ryan, wenn du dies nicht im Keim erstickst.«
Als sie an leckeren gebackenen Pasteten vorbeikamen, sagte Julia leise: »Und, Louise, wo gehörst du hin?« Vor lauter Wut hatte sie gar nicht gemerkt, daß Louise in Nickels Beisein den Namen ihrer Mutter preisgegeben hatte.
»Dumme Frage.«
Juts' Stimme nahm einen drohenden Ton an. »Was Nickel angeht, halt die Klappe. Halt einfach die Klappe. Sag ihr nicht, wo sie hingehört. Sie wird es selbst herausfinden; denn die Welt ist weiß Gott voll von Leuten wie dir, die ihr wegen etwas, das jemand anders getan hat, einen Platz im Leben absprechen!«
Nickel, die das Gezerre satt hatte, stahl sich unbemerkt davon.
»Ich habe die Welt nicht geschaffen, ich lebe bloß auf ihr!«
»Aber du tust nicht das Geringste, um sie besser zu machen.«
»Ich für mein Teil halte nichts davon, wenn Menschen ohne die Segnungen der Ehe körperliche Beziehungen pflegen.«
»Jesus Christus steh mir bei!«
»Du sollst den Namen unseres Erlösers nicht mißbrauchen.« Louise trat an einen Stand mit Kattunschürzen. »Ich brauche eine neue Schürze.«
»Du brauchst ein neues Mundwerk.«
Wheezie ging darauf nicht ein. Sie sah zwei kleine Schuhe unter der Stoffdrapierung der Holzbude hervorlugen. »Nicky?«
»Sie ist nicht hier«, lautete die entschlossene Antwort.
Louise bückte sich und hob den Zipfel einer bunten Steppdecke an. »Was machst du da drunter?«
»Nachdenken.«
»Tag, Mrs. Stoltz, meine kleine Nichte findet Ihre Steppdecken so schön.« Louise rang sich ein Lächeln ab.
Mrs. Stoltz, die so breit war wie hoch, hob die Decke auf der anderen Seite des Standes an. »Aha.«
»Verzeihung.« Juts trat hinzu, ließ sich auf ein Knie nieder und streckte die Hand aus. »Vorwärts, Trab, Cowboy.«
»Nein.«
»Nickel, du kommst auf der Stelle da raus oder du wirst es bereuen.« Bei jedem harschen Wort wippte die Zigarette in ihrem Mund auf und ab.
»Nein.«
Juts, die bis zum Äußersten gereizt war, wenngleich sie sich nicht erklären konnte, warum, klemmte ihre Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt das glühende Ende an Nikkys Oberarm. Nur eine ganz leichte Berührung, doch sie erzielte die gewünschte Wirkung. Das Kind stürmte heraus - zu geschwind für Juts, um es zu packen. Nickel raste durch den Gang.
»Mögen die Heiligen uns behüten.« Louise schüttelte den Kopf. Sie war seit der Volksschule nicht mehr gerannt. Louise fand rennen unweiblich.
»Dazu braucht es mehr als Heilige.« Juts trabte ihrem entschwindenden Kind hinterher und rief dabei über die Schulter: »Steh nicht da wie ein Sack Scheiße! Beweg dich!«
»Ich lasse mir solche Grobheiten nicht gefallen.« Murrend begab sich Louise in den nächsten Gang und marschierte forsch unter den alten Hängelampen entlang, wobei sie einen Blick in die Buden warf, um nachzusehen, ob das Kind dort untergeschlüpft war.
Die beiden Schwestern trafen sich am Schinkenstand am Ende der Gänge. Die große Bude erstreckte sich horizontal über die Hauptgänge.
Juts schnippte Glut auf den Boden und trat sie in dem Sägemehl aus, das vor dem Stand verstreut war. »Ich weiß gar nicht, wie sie so schnell laufen kann.«
»Sie ist hier irgendwo. Versuchen wir's in den zwei Gängen da drüben.«
Nickel war in keiner Bude zu finden. Sicherheitshalber fragte Louise den Aufseher, ob er sie gesehen habe. Er verneinte, wies jedoch darauf hin, daß Kinder draußen spielten, wo Marktkörbe und Abfall hingeworfen wurden. Er sei dort gewesen, um aufzuräumen und in der Gasse seien vielleicht zehn, fünfzehn Kinder gewesen. Juts ging hinaus in den milden Septembersonnenschein; ein Hauch von Herbst lag in der Luft. Sie sah einen Schwarm Kinder, doch ihres war nicht dabei.
Sie ging zu Louise am Süßwarenstand.
»Ich war mir sicher, sie würde hierher kommen. Kinder lieben Süßigkeiten.«
»Wheezie, versuchen wir's im Restaurant. Vorhin war sie auch dort.«
Sie liefen hin, jede besorgter, als sie der anderen gegenüber zugeben wollte. Keine Nickel.
Verzweifelt ließ sich Juts einen Moment auf einen Stuhl fallen. »Das ist, als würde man mit einem Affen leben. Sie rennt und springt und wälzt sich herum. Sie klettert auf Äste und schaukelt daran. Wenn ich morgens aufstehe, ist sie schon auf. Gestern hat sie alle Schranktüren aufgemacht, jede Einzelne, sogar die über der Anrichte. Sie ist auf die Anrichte geklettert. Sie hat nichts rausgenommen, Gott sei Dank, aber alle Türen standen offen. Sie kann stundenlang in der Vorratskammer sitzen und die Etiketten auf den Dosen angucken. Sie geht in meinen Kleiderschrank. Sie probiert meine Schuhe an. Letzte Woche hat sie sich Puder und Lippenstift ins ganze Gesicht geschmiert und Chessys beste Fliege ruiniert, weil sie die auch anhatte, einfach um den Hals gebunden. Herrgott im Himmel, was machen bloß die Leute, die mehr als ein Kind haben?« Ehe Louise erwidern konnte, daß ihre beiden nie so waren, warf Juts ihr einen strengen Blick zu. »Das ist deine Schuld.«
»Meine Schuld?« Wheezie fuhr sich mit der Hand an den Hals. Ihr Nagellack paßte zu ihrem Lippenstift.
»Du wolltest, daß ich ein Kind habe.«
»Was, ich?«
»Ist doch wahr, Louise. Morgens, mittags und abends hast du mir eingehämmert, ich sei keine richtige Frau, weil ich keine Mutter sei, und da siehst du mal, wie blöd ich war, ich habe dir geglaubt! Ich will keine Mutter sein. Das ist Schwerstarbeit, und zwar ununterbrochen.«
Louise, die gewöhnlich keinen Augenblick zögerte, sich zu verteidigen und ihre Schwester zu verhöhnen, überlegte, wägte ihre Worte. »Manche Tage sind besser als andere.«
»Tage? Ich wäre zufrieden, wenn ich nachts mal durchschlafen könnte. Sie steht morgens um halb sechs auf. Ich höre sie, aber weil ich am Tag davor dauernd hinter ihr her war, bin ich so müde, daß ich gleich wieder einschlafe.«
»Wenigstens macht sie keinen Krach.«
»Nein, aber eines Tages steckt sie wahrscheinlich das Haus in Brand. Sie ist zu allem fähig!«
»Das wächst sich aus«, prophezeite Louise zuversichtlich.
»Hätte ich bloß nicht auf dich gehört.«
Louise beugte sich über sie. »Du bist erledigt. Zugegeben, sie ist ein kleiner Wildfang, aber sie ist ruhig.«
»Ruhig - sie ist praktisch stumm. Sie spricht kaum drei zusammenhängende Worte, und das ist mir unbegreiflich, denn das Kind ist klug, Wheezie. Manchmal ist sie so klug, daß es mir Angst macht. Wenn diese braunen Augen mich betrachten - da komme ich mir vor, als würde mich ein Tiger beobachten.« »Sie lernt. Als Maizie klein war, ist sie mir von einem Zimmer zum anderen nachgelaufen und hat auf alles gezeigt, weil sie lernen wollte, wie Stuhl und Lampe heißen. Du mußt bedenken, sie sieht die Welt zum ersten Mal.«
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