»Da fragt man sich, wie sie einen Krieg überstehen können, nicht?«, warf Julia trocken ein.
»Ja. Oh, das hab ich ganz vergessen, dir zu erzählen. Frances Finster sagt, als sie in meinem Alter war, hatte sie Ohnmachtsanfälle.«
»Von dem vielen Formaldehyd im Bestattungsinstitut.«
»Julia, das ist nicht wahr. Eines Tages wirst du das auch durchmachen.«
»Wenn, dann wirst du's nicht erfahren.«
»Was soll das heißen?«
»Daß ich nichts von den Wechseljahren hören will. Warum sollte ich dann darüber sprechen?«
»Weil es eine neue Erfahrung ist. Ich möchte andere an meinen Erfahrungen teilhaben lassen.«
»Du läßt mich nicht teilhaben, du schwallst mich zu.«
»Und worüber sprichst du? Julia Ellen Hunsenmeir. Julia Ellen Hunsenmeir. Julia Ellen Hunsenmeir.«
Juts zuckte die Achseln. »Ich bin eben interessant.« Sie drehte sich um. Keine Nickel. »Wo ist das Kind schon wieder hin? Sie ist wie ein kleines Wiesel, witscht einfach weg. Mary und Maizie waren meines Wissens nicht so.«
»Nein.« Louises Antwort war schnippisch.
»Dieser Ton gefällt mir nicht.«
»Meine Mädchen haben sich wie Mädchen benommen. Sie waren folgsam. Und Marys Jungen - hören auf ihre Mutter. Nickel hat entschieden zu viel Freiheit. Du bringst ihr keine Disziplin bei.« »Von wegen. Sie steht jeden Morgen um dieselbe Zeit auf und geht jeden Abend um dieselbe Zeit ins Bett, und sie ißt zur selben Zeit wie Chessy und ich. Sie lernt Recht und Unrecht unterscheiden, so weit sie es jetzt schon versteht. Sie wird nicht ausfallend. Sie gehorcht recht gut.«
»Sie trägt Jeans und T-Shirts. Das schickt sich nicht.«
»Ach, du meine Güte.« Aufgebracht brach Juts das Gespräch ab, um ihre Tochter zu suchen. Sie ging den Gang entlang. Keine Nickel. Sie ging zum Mittelgang des Marktes zurück. Keine Nickel. Sie ging an der Seite entlang, wo sich ein kleines Restaurant mit Wachstuchtischdecken befand. Nickel stand auf einem Stuhl, die Hände auf dem Tisch und >las< die Rückseite des York Dispatch, während ein älterer Herr die Titelseite las. Seine Besucherin störte ihn nicht im Geringsten. Sein breitkrempiger schwarzer Hut lag auf dem Holzstuhl neben ihm.
»Verzeihen Sie bitte.«
Er sah auf. »Wir leisten einander Gesellschaft.«
Nickel zog ihre Mutter an der Hand und zeigte auf die Schlagzeile. »Truman.«
»Schätzchen, komm jetzt. Tante Wheezie ist heute ungeduldig.« Sie wandte sich wieder an den Herrn. »Nett, daß Sie ihr ein neues Wort beigebracht haben.«
»Ich habe es ihr nicht beigebracht. Sie hat es von der Schlagzeile abgelesen.«
»Truman.« Nickel zeigte wieder auf die Zeitung.
»Sie muß es von jemandem gehört haben.« Julia lächelte und hob Nickel an einem Arm vom Stuhl.
»Nein.« Nickel trat nach ihrer Mutter.
Juts stellte sie unsanft auf den Boden. »Mach das noch einmal, und ich erteile dir eine Lektion, die du nie vergessen wirst, junge Dame.« Sie nickte dem Mann zu, der seine Nase schon wieder in die Zeitung gesteckt hatte, und zerrte das bekümmerte, aber schweigende Kind mit sich.
Als sie Wheezie erblickte, die Hände in die Hüften gestemmt, sagte Juts: »Sie hat Zeitung gelesen.«
»Klar, Mike.« Wheezie benutzte einen alten Ausdruck, der bei ihnen >nie im Leben< oder >du hast Recht< oder je nach Tonfall alles Mögliche bedeutete.
»Nickel, Momma findet es wunderbar, daß du Wörter lesen kannst, aber du darfst nicht weglaufen, ohne es mir zu sagen.« Sie wandte sich an Louise. »Ich glaube, sie hat das Wort Truman aufgeschnappt. Sie hat ständig auf die Zeitung gezeigt und >Truman< gesagt. Sie ist ein neugieriger kleiner Floh.«
»Na klar, zumal du in deinem ganzen Leben kein einziges Buch ganz durchgelesen hast. Aber« - Louise atmete ein, ein bedeutungsschwangerer Hauch von Überlegenheit - »das war ja zu erwarten.«
»Was soll das denn nun wieder heißen, Wheezie?«
»Ach« - sie hob in gespielter Arglosigkeit die dünnen Augenbrauen und die Stimme - »nichts.«
»Scheißdreck.«
»Julia, sprich nicht so in der Öffentlichkeit.«
»Runde Gebilde.« Juts rang sich ein schmallippiges Lächeln ab. »Rund wie Ködel.«
»Hörst du wohl auf - und das vor deinem Kind.«
»Sie wird nichts sagen. Man kriegt ja kaum zwei Piepser aus diesem Kind heraus.«
»Du brauchst ein zweites Kind. Sie braucht eine Schwester oder einen Bruder.«
»Nein«, kam die ziemlich laute Antwort von Nickel.
»Widersprich Tante Wheezie nicht, sie weiß, was gut ist für kleine Mädchen.«
»Ich will kein kleines Mädchen sein.«
Dieser vollständige Satz verschlug den beiden Frauen die Sprache. »Wie bitte?«, brachte Louise schließlich heraus.
»Truman. Ich will Truman sein.« Sie stand da, mit gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen.
Juts sah auf das kleine Biest hinunter. »Ich glaube, sie will Präsident sein.« Dann brach sie in Lachen aus.
»Du darfst sie nicht ermutigen, Juts, sonst kommst du in Teufels Küche.«
»Sei doch nicht immer so ernst. Wenn sie Präsident sein will, Herrgott, dann laß ihr den Traum.«
Louise lächelte süßlich. »Nicky, Mädchen können nicht Präsident sein. Du kannst Krankenschwester werden. Das wäre schön. Viele kleine Mädchen werden später Krankenschwester. Du würdest Menschen helfen. Oder du könntest ein Instrument spielen. Maizie spielt Klavier.«
»Nein!«
Juts nahm ihre Hand. »Komm, Kind, wir haben noch eine Menge Einkäufe zu erledigen. Diesen Kram besprechen wir später.«
Als sie an einem Stand mit einem großen Schild vorbeikamen, auf dem Fletchers Früchte< zu lesen war, zeigte Nickel nach oben. »Früchte.« Es klang allerdings mehr wie »Früü-te«.
Louise starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck in ihrem ernsten Gesicht an. »Woher kennt sie das?«
»Ich weiß es nicht.« Juts zuckte die Achseln. »Ich erzähle ihr andauernd Geschichten.«
»Sie ist dreieinhalb. Kinder lernen erst mit sechs lesen.«
»Hm - ich nehme an, sie ist ein bißchen voraus. Außerdem wird sie im November vier.«
Louise legte ihre Hand unter Nickels Kinn und sah in die braunen Augen, die ihren Blick unerschrocken erwiderten. »Schweig lieber, Nicky. Manchmal ist es besser, nicht so, äh, klug zu sein.«
»Laß sie in Ruhe, Louise.« Juts kniete nieder. »Nicky, du darfst lesen, was du willst, falls du wirklich lesen kannst. Ich glaube, Tante Louise meint, es ist unhöflich, auf Dinge zu zeigen und ein Wort zu rufen. Komm jetzt weiter.«
»Das habe ich nicht gemeint«, brummte Louise. »Sie wird dadurch zum Außenseiter. Du mußt bedenken, wie sie mit anderen Kindern auskommt. Sie sammelt Minuspunkte, bevor sie überhaupt loslegt.«
»Kinder denken nicht so.«
»Das lernen sie schnell genug von ihren Eltern.«
»Müssen wir uns denn immer Gedanken darüber machen, was in einem Jahr sein wird oder in zehn Jahren? Was Lillian sagen wird oder Fannie Jump oder Caesura, die alte Schachtel? Was Father O'Reilly denken wird und he, der Papst könnte sich fürchterlich aufregen. Morgen kann uns ein Hurrikan von der Erdoberfläche pusten, und wenn der es nicht schafft, wie wäre es im nächsten Frühjahr mit einer Sintflut von Noahs Ausmaß? Wenn ihre kleinen Freunde ihr Dinge vor den Latz knallen, wird sie schon herausfinden, daß manche Menschen Kotzbrocken sind. Und sie wird hoffentlich so gescheit sein, sich mit denen nicht abzugeben.«
Louise wirbelte zu ihr herum. »Du tust dem Kind keinen Gefallen, wenn du ihm Flausen über seinen Status in den Kopf setzt. Es ist nicht gut für ein Mädchen, so auffallend klug zu sein. Klug sein kann man in der Ehe, nicht vorher.«
Читать дальше