Josephine war so aufgewühlt, daß ihr der Mund offen blieb. Als hätte sie eine 38er-Kugel von hinten getroffen, sank sie auf die Knie.
Cora eilte hinzu, griff ihr unter die Arme und richtete sie auf. Josephine bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubringen. Sie sah aus wie ein Fisch.
»Komm, Jo, es ist heiß hier draußen. Ich bring dich ins Haus.«
Als Cora ihre erbittertste Feindin zur Haustür schleppte, liefen die Telefondrähte schon heiß. Caesura Frothingham, die in ihrem schicken Wagen vorbeiführ, erfaßte das Drama, und auf der gegenüber liegenden Straßenseite hatte Frances Finster alles beobachtet.
Mühsam setzte Josephine einen Fuß vor den anderen. Cora half ihr ins Haus, fand die Küche und schenkte ihr kaltes Wasser ein. Die Hand am Hals, krümmte sich Josephine in Ruperts Sessel zusammen.
»Hier, ein kleiner Schluck wird dir gut tun.«
Mit zitternden Händen nahm Jo, die einst so hübsche Frau, das Glas; Wasser tropfte ihr aufs Kinn. Sie zögerte, trank dann noch einen Schluck. Ein blechernes Quietschen - wie eine ungeölte Bremse - war der einzige Laut, der sich ihr entrang, als sie Cora das Glas zurückgab. Cora stellte es auf den Tisch.
»Jo, wir sind alt, aber es ist noch viel Leben in uns. Es ist leichter, glücklich zu sein, als unglücklich zu sein. Der liebe Gott hat uns nicht zum Unglücklichsein erschaffen.«
»Ich bin schon vor langer Zeit gestorben«, flüsterte Josephine.
»Hm - du kämpfst um deine Wiedergeburt.« Cora wollte ihr das Glas reichen, doch Josephine wies es zurück, weil es ihr schon besser ging. »Ich war schon immer der Ansicht, daß Jesu Auferstehung von den Toten genau das bedeutet. Nicht, daß sich Gräber öffnen, sondern daß wir ins Leben zurückkehren können. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich mich genauso gefühlt habe wie du?«
»Das kann nicht sein.« Josephine erstickte fast an ihrer eigenen Stimme.
»Vielleicht nicht aus denselben Gründen, aber so gut wie alle, denen man in Runnymede begegnet, haben furchtbares Leid erfahren oder sich dem Tode nahe gefühlt. Sie sind zurückgekommen.«
»Wer bist du, mir zu sagen, wie ich zu leben habe?« Ein jäher Zorn beflügelte sie.
»Niemand.«
»Laß mich in Ruhe.«
»Na schön.« Cora wandte sich zur Tür. »Aber wenn du nicht zurückkommen kannst, Jo, tu den Kindern nicht weh, sei nicht so kalt zu ihnen. Sie brauchen dich.«
»Niemand braucht mich!«, entfuhr es Josephine voller Wut und Gram.
Cora schloß leise die Tür, froh über den Sonnenschein, und war es noch so schwül.
In jenem Sommer geschah noch mehr. Cora las Louise wegen ihres abscheulichen Verhaltens Hansford gegenüber die Leviten, am Abend desselben Tages, an dem sie sich Josephine Smith vorgeknöpft hatte. Louise blähte sich auf wie ein vergifteter Hund. Sie wollte Bumblebee Hill nicht mit Julia teilen. Sie war durchaus selbstsüchtig, was sie natürlich nicht zugab, doch ihr Einwand war, daß Julia eine Verschwenderin und es der sicherste Weg in den Bankrott sei, das Eigentum mit ihrer jüngeren Schwester zu teilen. Cora sagte, sie müßten lernen, sich zusammenzuraufen. Schließlich hätten sie das als Besitzerinnen des Curl 'n' Twirl auch getan. Louise entgegnete, nur, weil sie die Bücher geführt habe. Schön, erklärte Cora, dann solle sie sie wieder führen. Immerhin konnte Cora Louise das Versprechen abringen, wenn sie ihrem toten Vater nicht vergeben könne, wenigstens zu vergessen. Es tue nicht gut, Haß mit sich herumzutragen. Louise wollte es versuchen.
Alle steckten in Geldnöten, abgesehen von den ganz Reichen wie Ramelle, den Rifes, den Falkenroths und den funkelnagelneureichen Mundis. Die Lebenshaltungskosten stiegen sprunghaft um mehr als dreißig Prozent an. Heimkehrende Soldaten, endlich entlassen, fanden keine Arbeit, obwohl die Frauen, die während des Krieges eingesprungen waren, in Scharen den Laufpaß erhielten.
Nachdem Extra Billy sich mit einer eigenen Farm abgemüht hatte, erklärte er sich einverstanden, in Pearlies Geschäft einzusteigen. Wie so viele Kriegsteilnehmer wachte er Nacht für Nacht aus gräßlichen Albträumen auf. Mary nahm eine Arbeit bei der Telefongesellschaft an, wurde aber im Nu wieder schwanger.
Tante Dimps stellte Doak Garten, der von der Marine zurück war, in ihrem Blumengeschäft ein. Zwar wurde eisern gespart, doch bei Begräbnissen, Hochzeiten, Jubiläen und Geburten waren Blumen unerläßlich.
Alle Welt bekam Kinder.
Nickel, entschieden einsilbig, durfte jetzt mit Chester und Julia Ellen Dienstagabends Josephine und Rupert Smith besuchen. Man erzählte sich, daß Josephine so manchen Nachmittag im Gebet und Zwiegespräch mit Pastor Neely verbrachte. Er riet ihr, auf die Worte Jesu zu hören: »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.« Sie rang innerlich mit sich, doch sie sah das Licht. Zwar wurde sie dadurch nicht freundlicher oder wärmer, aber sie mußte krabbeln, bevor sie laufen konnte. Nickel war bei den Smiths noch schweigsamer als zu Hause. Sie saß in der Ecke und sah sich die Bilder im National Geographic an. Sie wollte unbedingt lesen. In Gesellschaft von Yoyo und Buster kletterte sie am Regal hoch, um die Familienbibel zu holen, schlug sie auf und tat so, als läse sie der Katze und dem Hund laut vor. Die beiden waren schwer beeindruckt.
Der >Wechsel< war Gegenstand verstohlener, tief schürfender Gespräche zwischen Louise und ihren besten Freundinnen. Ev Most und Juts kicherten über dieses Thema. Juts und Ev, ehemalige Schuldkameradinnen, spürten noch keinerlei Anzeichen. Nachdem sie vor wenigen Jahren leise die vierzig überschritten hatten, waren sie durchaus nicht in Eile.
Hitzewallungen, unerwartete Blutungen, Reizbarkeit und Verwirrung machten der etwas älteren Truppe zu schaffen. Juts hatte den weiblichen Organen nie das geringste Interesse entgegengebracht. Wenn sie ihre eigenen Röhren und Innereien nicht scherten, dann scherten sie die anderen erst recht nicht. Das hinderte Louise nicht daran, sich in ausführlichen Schilderungen zu ergehen.
An diesem Freitag im September 1948 gönnten sich die Hunsenmeir-Schwestern auf dem Yorker Markt einen ausgiebigen Einkaufsbummel. Reihenweise fleischige Kürbisse - leuchtend weiße Patissons, gelbe Gartenkürbisse, runde grüne Ölkürbisse - lockten sie. In Kisten glitzerten prachtvolle späte Brombeeren, Hirnbeeren und Blaubeeren. Auf gestoßenem Trockeneis lagen durchwachsene Filetstücke, ganze Schinken und saftige Lammkoteletts, durch Petersiliensträußchen voneinander getrennt.
Die Amish-Frauen trugen Hauben und Schürzen; die Männer nickten den Schwestern zu, wenn sie sich ihren Ständen näherten. Kartoffeln, Mais, Möhren, Radieschen so rot wie Rubine, Okra, Bohnen aller Sorten und Erbsen füllten Körbe über Körbe. Nickel konnte die Auslagen nicht sehen, aber sie konnte die Waren riechen. Wenn ihr Blick gelegentlich auf eine Katze fiel, die an einem Stand arbeitete, blieb sie stehen und schwätzte mit ihr. Irgendwann merkte Juts, daß die Kleine abhanden gekommen war und ging denselben Weg zurück, bis sie sie fand, meist auf der Erde hockend und ein Kätzchen streichelnd.
»Ach, da bist du. Verzeihung, Mrs. Utz, Nicky liebt Katzen.«
Mrs. Utz lächelte. »Ich auch.«
»Du kommst jetzt mit mir.«
Nickel gewahrte den Befehlston und auch Tante Wheezie, die an der Ecke des Gangs wartete. Den Lockenkopf gesenkt, folgte Nickel ihrer Mutter.
Kaum waren sie bei Louise angelangt, ließ sie wieder eine Schilderung ihres Zustands vom Stapel. ». wie gesagt, da saß ich mit Paul am Tisch und urplötzlich - also, das war einfach zu viel. Keine Vorwarnung, kein Garnichts und der arme Pearlie - du weißt ja, wie die Männer sich bei solchen Sachen anstellen, ich dachte, er wird ohnmächtig. Wie gut, daß sie keine Kinder kriegen. Bei dem vielen Blut würden sie glatt sterben.«
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