Dort angekommen, brachten sie das Kind auf der Stelle zu Dr. Horning. Erschöpft brach Louise in heftiges Schluchzen aus, als der Arzt sie bat, Juts das Baby nicht zu bringen. Warum sollte sie Liebe für ein Kind entwickeln, das mit Sicherheit sterben würde?
Chester, mit dunklen Ringen unter den Augen, nahm Dr. Horning mit zitternden Händen das Baby ab und gelobte: »Dieses Kind wird nicht sterben. Sagen Sie mir, was ich zu tun habe.«
Und so stand Chester Smith in den folgenden sechs Monaten jede Nacht alle drei Stunden auf, um das magere Ding mit einer bestimmten Rezeptur zu füttern. Julia Ellen genas binnen eines Monats, und auch sie fütterte das Baby rund um die Uhr. Sie beklagten sich nie über den Mangel an Schlaf. Manchmal standen beide zur gleichen Zeit auf, obwohl einer die Gelegenheit zum Schlafen hätte nutzen sollen. Sie hielten das Mädchen gern zusammen im Arm. Bis zum 8. Mai war Nicole Rae Smith, von allen Nickel genannt, schließlich so dick, daß sie aussah wie ein Sumoringer. Sie war so gesund, daß sie in Daddys Armen mit ganz Runnymede den Tag des Sieges feiern konnte. Die Leute weinten, schrieen und tranken. Bestimmt würde die Welt von jetzt an eine Bessere sein.
Und Julia Ellen kehrte ins Reich der Lebenden zurück. Julia, die Chesterfield im Mundwinkel, Julia, die immer eine dicke Lippe riskierte, Julia, die ungehorsam war und bis zum Morgengrauen tanzte - Julia Ellen war endlich Mutter.
Die Fliederzweige bogen sich unter dem Gewicht zahlloser bunter Schmetterlinge, die sich auf den nahrhaften Blüten niedergelassen hatten: rot gefleckte Schillerfalter, deren knalliges Blau sich fächerförmig über die schwarzen Flügelspitzen ausbreitete; gelbe und schwarze Schwalbenschwänze, die wie elegante Tänzer über den duftenden blaßlila Blüten schwebten; ein riesengroßer Ritterfalter mit einem schmalen gelben Band, das sich waagerecht von Spitze zu Spitze über die schwarzen Flügel zog. Eckenfalter, bescheidener in der Farbgebung, nicht aber in der Musterung, flogen so dicht an Nickels kleinen Ohren, daß der Lufthauch der Flügel sie kitzelte. Es wimmelte von schwefelgelben Schmetterlingen, von blauen Faltern in allen Schattierungen, von Dickkopffaltern und Postillions, Bläulingen, Pfauenaugen, Weißlingen und Schachbrettfaltern, Weidenbohrern und winzigen seidengewächsfarbenen Schmetterlingen.
Jedes Mal, wenn das zweijährige Mädchen einen Schmetterling haschen wollte, entwischte er ihr flatternd. Yoyo, die dem zweibeinigen Neuzugang inzwischen sehr gewogen war, rekelte sich auf der Seite unter dem Fliederstrauch. Zu träge, um einen Schmetterling zu fangen, sah sie ihnen genüßlich beim Gaukeln zu, während ihre Schwanzspitze wippte, als spiele der Wind mit ihr. Ein übermütiger orangegelber Chrysipusfalter schwirrte an ihrer Nase vorbei. Yoyo schlug lässig nach ihm und verfehlte ihn.
Yoyo und Buster waren die beiden besten Freunde des Kindes, Louises Doodlebug war der Dritte im Bunde. Sie spielte mit anderen kleinen Kindern: ihrem zwei Jahre älteren Cousin Oderuss, dem kleinen Jackson Frost, der auch zwei Jahre älter war, Robert Marker, ein Jahr älter, und Ursula Vance, ebenfalls ein Jahr älter.
Nickel konnte schon früh laufen. Sie hatte eine außergewöhnliche Körperbeherrschung. Doch sie sprach kaum, was Juts dermaßen beunruhigte, daß sie mit dem Kind zum Arzt ging, der befand, daß ihr Kehlkopf und ihre Stimmbänder in Ordnung seien und ihre geistigen Fähigkeiten für ihr Alter überdurchschnittlich schienen. Er kam zu dem Schluß, daß Nicole Smith einfach kein Bedürfnis hatte zu reden. In Wahrheit spielte sie so viel mit Yoyo und Buster, daß Worte sich erübrigten.
»Nein« war ihr allerdings geläufig, und sie machte energisch Gebrauch von diesem Wort, wann immer Juts oder Louise sie zu etwas drängen wollten, das sie nicht interessierte, wie zum Beispiel Puppen. Sie wollte auch keine Babynahrung in Gläschen zu sich nehmen, die man ihr als kulinarischen Leckerbissen anbot. Schlimmer noch, das Kind mochte keine Milch. Julia Ellen fürchtete, sie würde austrocknen, denn sobald sie sie von ihrer Spezialrezeptur entwöhnt hatte, wollte sie nur noch Wasser trinken. Deshalb gab Juts ihr Coca-Cola ins Babyfläschchen, und Nickel gluckste vergnügt. Wenn andere Mütter ihre unkonventionellen Methoden kritisierten, erwidert sie: »Dann seht doch zu, wie ihr mit ihr fertig werdet.«
Nach wenigen Versuchen, der Kleinen ihren Willen aufzuzwingen, gaben es Mary Miles Mundis, Frances Finster, Lillian Yost und andere passionierte Mütter bald auf, sich mit dem kleinen Lockenkopf zu beschäftigen. Lillian hatte ihr erstes Kind 1943 durch eine Fieberkrankheit verloren, jedoch ein Jahr später einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, und sie und Julia sahen ihren ungefähr gleichaltrigen Knirpsen oft gemeinsam beim Herumkrabbeln zu. Millard junior, kurz Mill, war ein süßes Baby mit flammend roten Haaren und so unglaublich vielen Sommersprossen, daß er aussah wie ein Schecke.
Nickel hatte nichts gegen kleine Kinder in ihrem Alter, doch sie fühlte sich mehr zu Tieren und gelegentlich zu Erwachsenen hingezogen. Sie hatte die beunruhigende Angewohnheit, reglos und stumm dazusitzen und mit ihren braunen Augen jede Bewegung der Erwachsenen zu verfolgen.
Sie liebte Cora, aber Hansford war ihr unheimlich; sein Bart kratzte. Sie himmelte Ramelle an und klatschte jedes Mal in die Hände, wenn die gertenschlanke grauhaarige Schönheit erschien.
Mary und der inzwischen aufsässigen Maizie schenkte sie kaum Beachtung, doch Pearlie und Extra Billy zockelte sie hinterher. Sie lächelte, wenn Louise ihr einen Hundekeks gab. Dann ließ sie sich auf die Erde plumpsen und versuchte, den Keks zu mampfen wie Buster oder Doodlebug. Sie brachte auch Oderuss dazu, einen Keks zu essen, was Mary nicht gerade für Nicky einnahm. Geduldig warteten die Hunde, bis sie ihre Trophäe Leid war oder Oderuss den Keks hinwarf und liegen ließ, und dann schnappte ihn sich einer von ihnen. Wenn das Kind weinte, warf Buster zu aller, besonders Yoyos Erstaunen den Keks Nickel wieder vor die Füße.
Tante Dimps prophezeite, das Kind werde später einmal Tierdompteuse. Ramelle trug Nickel in den Stall, setzte sie auf ein Pferd und hielt sie fest. Nickel zeigte keine Furcht, worauf Ramelle erklärte, das Kind würde einmal eine so gute Reiterin wie Celeste. Louise sagte, Nickel werde Schriftstellerin, worauf alle lachten, da Julia Ellen schon beim Schreiben eines Einkaufszettels Zustände bekam. Das einzige Buch im Hause Smith war die Bibel, von der Julia keinen Gebrauch machte. Cora erklärte allen, Nickel werde, was sie werden wolle. Sie habe ihren eigenen Willen.
Die Einzige, die sich jeglicher Vorraussagen enthielt, war Mutter Smith. Sie weigerte sich, die Kleine zu sehen, auch ließ sie Chessy mit dem unehelichen Kind nicht in ihr Haus. Rupert schien sich so oder so nicht für dieses Thema zu interessieren, doch er rauchte stärker und kippte ein paar Whiskey mehr als sonst. Chester besuchte seine Mutter weiterhin gehorsam jeden Dienstag, aber ansonsten zu keiner anderen Zeit, ungeachtet ihrer flehentlichen Bitten und gelegentlichen Wutausbrüche. Mutter Smith wurde immer verbitterter, doch da sie in diesem Leben keine Freundschaften gepflegt hatte, kümmerte es niemanden.
Zwei Soldaten, die 1945 auf Urlaub durch Runnymede kamen, verliebten sich in die Stadt. Sobald Pierre und Bob aus der Armee entlassen waren, erwarben sie den Salon Curl 'n' Twirl von den Hunsenmeirs. Juts steckte ihre Hälfte des Geldes in Sparobligationen für Nickel; es war das einzige Mal in ihrem Leben, daß sie Vernunft bewies. Zur allgemeinen Überraschung schlug Louise über die Stränge und kaufte sich ein eigenes Auto. Pearlie wäre fast gestorben. Erst recht, als er mit ihr mitfuhr. Louises Buick Coupe, in einem schönen Jagdgrün, erregte sie wie kaum etwas in ihrem Leben.
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