Das stopfte Juts den Mund. In zögerndem Gehorsam schwenkte sie den großen Scheinwerfer ächzend und stöhnend in Richtung des Lärms.
»Stukas!«, schrie Louise.
Die schwarzen Silhouetten in V-Formation hoch droben hätten die schlanken deutschen Sturzbomber sein können, deren Einsatz solch eine verheerende Wirkung hatte.
»Die Motoren hören sich aber komisch an.«
»Das liegt an der Höhe - Julia, halt weiter auf die Flugzeuge.«
»Ich hab sie in den Wolken verloren.«
»Bleib dran! Ich kurbel die Sirene.«
»Sollten wir nicht erst Gewißheit haben, bevor wir alle Leute aus den Betten jagen?«
»Besser, wir jagen sie raus als die Deutschen.« »Okay.« Julia stabilisierte den Scheinwerfer; ihre Schultern spannten sich, als sie versuchte, den Strahl in einen steileren Winkel zu bringen.
Louise kurbelte den dicken Holzgriff an der Sirene, und der tiefe Heulton, ein Ton des Schreckens in aller Welt, schrillte durch die Sommernacht.
»Louise! Louise!«, schrie Julia, doch Louise konnte sie bei dem ohrenbetäubenden Geheul nicht hören. »Es sind Kanadagänse!«
Die Menschen strömten in Nachthemden und Schlafanzügen, die Damen in pastellfarbenen Morgenröcken, aus ihren Häusern, als die Sirene die nächtliche Stille zerriß.
Juts klopfte Louise auf die Schulter. Sie hörte einen Moment auf zu kurbeln. »Kanadagänse!«, schrie Juts.
»Unmöglich.« Ihre Skepsis war durchaus berechtigt, denn diese schönen Vögel ziehen gewöhnlich im Frühjahr nach Norden und kehren im Herbst zurück.
Juts hielt den Scheinwerfer auf die Gänse gerichtet, die in die riesigen Wolken hinein und wieder hinaus segelten. »Guck doch selber!«
Louise sah die V-Formation direkt über ihren Köpfen fliegen. »Ogottogott.« Sie ließ das Fernglas sinken. »Julia, Julia, das darfst du niemandem erzählen.«
»Herrje, Louise, wir können die Leute nicht im Glauben lassen, daß es die Deutschen sind. Das bringt ganz Maryland in Aufruhr.«
»Das kannst du mir nicht antun!« Tränen kullerten ihr über die Wangen. »Kanadagänse«, weinte sie laut.
»Komm, Wheezer.« Juts überlegte und sagte: »Erzähl ihnen, es sind deutsche Gänse.« Sie hielt inne. »Jeder macht mal einen Fehler.«
»Aber nicht so einen.« Louise hob das Fernglas an die Augen. »O nein.« Dann nahm sie die Leute ins Visier. »O Gott!«
Die Menschen taumelten aus Hintertüren, kamen aus Haustüren gestürmt. Einige, die nach dem Runnymede-Tag vielleicht noch immer in Watte gepackt waren, sprangen aus dem Fenster.
Caesura Frothingham, die im Nachthemd mehr von sich enthüllte, als irgend jemand sehen wollte, kreischte: »Die bringen uns um«, just als Wheezie mit dem Flakgeschütz in die Luft schoß, um eine Attacke auf den Feind vorzutäuschen.
Mutter Smith wies zum Himmel, als Rupert sie zu Boden stieß.
Verna BonBon nahm erstaunlich ruhig jedes Haus in ihrer Straße ins Visier. Wenn sie keine bedrohlichen Gerausche hörte, würde sie sich nicht ins taunasse Gras legen.
Nachdem sie die Salve abgefeuert hatte, betrachtete Louise wieder mit dem Fernglas das Getümmel. Ein blecherner Ton schlich sich in ihre Stimme. »Juts - Juts, guck mal.«
In der Sekunde, da sie ihrer Schwester das Fernglas reichte und nach unten zeigte, wurde Louise klar, daß sie einen schrecklichen Schnitzer begangen hatte. Sie hätte diese Entdeckung für sich behalten sollen. Zu spät.
Juts richtete das Fernglas auf die Menschen unten, dann erfaßte sie, was Louises Blick auf sich gezogen hatte. Chessy kam von der Pennsylvania-Seite her die Straße heruntergerannt, begleitet von Buster. Etwa einen halben Häuserblock entfernt stand Trudy Archer in einem Spitzennachthemd und sah ihm nach. Juts gab ihrer Schwester das Fernglas zurück und stürzte zu dem großen Scheinwerfer. Unter Aufbietung aller Kräfte schwenkte sie den Strahl vom Himmel hinunter auf die Straßen, er streifte Lillian Yost, die Haare auf rosa Lockenwickler gerollt, und ließ Runnymede im schönsten Durcheinander erstrahlen.
»Hab ich ihn erwischt?«
»Haarscharf!«
»Auf frischer Tat«, sagte Juts mit zusammengebissenen Zähnen.
»Schwenk das Ding lieber wieder zum Himmel.«
»Ich will, daß er schmort.«
»Das wird er, aber wenn du es nicht wieder hoch schwenkst, schmoren auch wir.«
Juts stützte sich ab, indem sie einen Fuß gegen die Turmmauer stemmte, und wuchtete den heißen Scheinwerfer wieder gen Himmel. Das Gänsegeschrei erstarb, während das Geschrei unten an Lautstärke zunahm.
Die Erste, die sich am Fuß des Turmes einfand, war Fannie Jump Creighton, die gar nicht ins Bett gegangen war, oder richtiger, die nicht schlafen gegangen war. Der junge Mann an ihrer Seite war garantiert keinen Tag älter als achtzehn. Bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als Roger Bitters, zwei Jahre jünger als sein Bruder Extra Billy.
»Was ist los?«, schrie Fannie hinauf.
»Stukas«, schrie Louise hinunter, »fliegen in etwa zehntausend Fuß, schätzungsweise.«
»Okay.« Fannie lief zur Feuerwache, um zu telefonieren. Harmon, dem heute Nacht kein Schlaf vergönnt war, hielt an, als sie ihm winkte. Sie steckte ihren Kopf durchs Fenster und teilte ihm mit, was Louise berichtet hatte. Er meldete es über Polizeifunk. Wohlweislich ließ er seine Scheinwerfer ausgeschaltet.
Verwirrt standen die Leute mitten auf der Straße. Caesura verharrte kauernd neben ihrem Wagen, um ja kein Risiko einzugehen. Die dicke weiße Cremeschicht, die sie sich aufs Gesicht geklatscht hatte, würde herumfliegende Trümmer absorbieren, ohne Caesura dadurch zu schaden.
Louise, nach ihrem Fauxpas nun wieder geistesgegenwärtig, kurbelte die Sirene und gab Entwarnung.
Sobald sie fertig war, kletterte Harper auf den Turm. »Was war los?«
Louise machte den Mund auf, der aber so trocken war, daß sie keinen Ton herausbrachte.
Juts gab rasch Auskunft: »Ein Geschwader deutscher Flugzeuge, in ungefähr zehntausend Fuß Höhe.«
»Konnten Sie sie erkennen?«
Louise nickte. »Stukas.«
Julia fügte hastig hinzu: »Ein Glück für uns, daß die Leute kein Licht gemacht haben, sobald wir Alarm schlugen. Die Verdunkelung hat uns gerettet.« Sie hörte ein Klappern unter sich, und als sie über die Kante lugte, sah sie, wie sich ihr Mann die Leiter hinaufhievte. Sie griff sich eine Thermoskanne und zielte direkt auf seinen Kopf. »Du elender Mistkerl!«
Harper blickte über die Kante. »Juts, er kann nichts dafür, daß er geschlafen hat. Beruhigen Sie sich. Der Anblick eines feindlichen Geschwaders bringt jeden aus der Fassung. Gut gemacht, meine Damen.«
Louise lächelte matt, aber Julia hatte eine Mission: Sie wollte ihren Mann umbringen.
Sie griff nach dem Fernglas. Louise entriß es ihr, Juts zog ihren Schuh aus und schlug ihn Chessy auf den Kopf.
»Julia«, rief er und klammerte sich an die Leiter. »Ich kann alles erklären.«
»Erklär es dem lieben Gott.« Sie zog den anderen Schuh aus.
Mit beunruhigender Schnelligkeit hatte sie zwei und zwei zusammengezählt: die Muschelohrringe und Chesters Tanz mit seiner Mutter.
Unten hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Louise packte ihre Schwester am Arm. »Das müssen Sie verstehen, Julia ist eine Kämpfernatur. Sie ist wütend, weil ich ihr mit dem Abfeuern des Flakgeschützes zuvorgekommen bin, stimmt's?« Eine bessere Geschichte fiel Louise nicht ein.
Juts blinzelte. »Ah.« Sie wandte sich an Harper. »Wir hatten sie, Harper. Wir hatten sie im Visier, aber die Wolken haben es uns vermasselt!«
Harper beugte sich herunter, hielt die Hände als Trichter an den Mund und rief: »Deutsche Flugzeuge. Es ist vorbei. Gehen Sie nach Hause.«
»Woher wissen wir, daß nicht noch mehr kommen?«, erwiderte Millard besonnen.
Читать дальше