Julia plapperte weiter. »Muß jemand anders gewesen sein, nicht Chester.« Sie reckte den Hals, um in die samtige Dunkelheit zu spähen. »Louise.«
»Julia, sei still!« Louise suchte das Flugzeug. »Da ist es!«
»Es ist eins von uns.«
»Sei still!« Louise richtete das Fernglas auf das Flugzeug und hielt nach verräterischen Kennzeichen Ausschau. Eine große weiße Zahl war auf die Seite gepinselt, außerdem ein weißer Kreis mit einem weißen Stern darin. »Das ist eine Transportmaschine. Was hat die hier zu suchen?«
»Wollte wohl mal kurz zum Feiern runterkommen.« Juts wollte das Fernglas. »Vielleicht war das Wetter schlecht, dort, wo sie herkommt.«
»Kann sein.« Louise ließ das Fernglas sinken, das sie sich um den Hals gehängt hatte.
»Laß mich mal.« Juts griff nach dem Glas, und Louise streifte sich den Riemen über den Kopf.
Juts sah gar nicht erst nach dem Flugzeug. Sie richtete das Glas auf das Tanzvergnügen. »Er tanzt nicht. Er sitzt neben seiner Mutter, dieser Zicke.«
»Er hat mit seiner Mutter getanzt.«
»Mann, muß der voll sein.«
»Mir sah er nüchtern aus.«
»Vielleicht hat sie ihn geführt. Sie meint ja, das tut sie seit sechsunddreißig Jahren.«
»Ich sage dir, er hat mit seiner Mutter getanzt.«
Juts glaubte ihr nicht. Sie wechselte das Thema, wie immer, wenn sie Streit vermeiden oder Kritik aus dem Weg gehen wollte. »Ich hätte Lust, den alten Drachen zu fragen, was mit Hansford war. Möchtest du nicht auch ihr Gesicht sehen?«
»Nein. Das interessiert mich nicht.«
»Ach komm, Wheezer, er ist unser Vater.«
»Schöner Vater.«
Juts zuckte die Achseln. »Ich glaube, wir werden nie erfahren, was im Kopf eines anderen Menschen vorgeht. Vielleicht hatte er gute Gründe.«
»Seine Ausreden sind fadenscheinig. Ich verstehe nicht, warum du deine Zeit mit ihm verschwendest.«
»Weil er der einzige Vater ist, den wir haben, ob ein guter oder ein schlechter, und wenn er nicht mehr lebt, dann ist es vorbei. Dann werden wir nie erfahren, was er vom Leben gelernt hat.«
»Du hast es mit dem Lernen.«
»Manche lernen aus Büchern. Ich lerne von Menschen.«
»Und was hast du bis jetzt gelernt?«, fragte Louise herausfordernd.
»Daß jeder seine Gründe hat, egal, wie hirnverbrannt sie sein mögen. Die Leute denken eben, daß sie das Richtige tun. Adolf Hitler denkt, daß er das Richtige tut.«
»Das ist doch lächerlich. Das würde bedeuten, daß Hitler nicht Recht von Unrecht unterscheiden kann.«
»Das kann er. Er denkt, er hat Recht.«
»Das glaube ich nicht. Manche Menschen dienen dem Teufel.« »Ich glaube, manche Menschen dienen sich selbst - das kommt auf dasselbe raus.«
Louise rümpfte die Nase. Dieser Gedanke war neu für sie, und ihre erste Reaktion war stets, etwas Neues von sich zu weisen. Immerhin dachte sie darüber nach. »Ich weiß nicht.«
Sie saßen beisammen und lauschten. Von unten drang Gelächter herauf. Tränen liefen über Julia Ellens rosige Wangen.
Louise bemerkte es. »Juts, was hast du?«
»Ich weiß nicht.«
»Ist dir schlecht?« Louise wurde brummig. »Ich weiß, du hast zu viel getrunken. Dann quasselst du immer wie ein Wasserfall.«
»Hab ich nicht.« Juts hörte auf zu weinen. »Mir ist komisch, weiter nichts.«
»Wenn du hier oben auf dem Turm kotzt, wisch ich es nicht
weg.«
»Mir ist nicht schlecht!« Ihre Augen blitzten. »Ich bin irgendwie bedrückt. Louise, du kannst manchmal ein richtiges Miststück sein, weißt du das? Ich hacke nicht auf dir rum, wenn du bedrückt bist oder aus der Haut fährst.«
»Ich fahre nicht aus der Haut.« Louise reckte das Kinn.
»Von wegen.«
Louise überhörte das und fragte: »Was ist los?«
»Chester hat kein Wort mehr von einem Kind gesagt, seit er die Ergebnisse von Dr. Horning hat. Er sagt, er braucht Zeit, aber wie viel Zeit?«
»Es ist erst, hm - ein paar Wochen her. Dräng ihn nicht.«
»Ich habe keinen Ton gesagt.« Sie wischte sich die Tränen fort. »Wheezie, vielleicht liebt er mich nicht mehr. Wenn er mich liebte, würde er wissen, daß ein Kind mir alles bedeutet.«
»Er liebt dich. Vatersein ist für Männer scheinbar nicht so wichtig wie Muttersein für uns. Laß ihn in Ruhe.«
»Meinst du?«
»Männer sind wie Kinder, Juts. Ich weiß nicht, warum das nicht in deinen Kopf will. Du behandelst sie als Freunde, und das geht nicht. Chester ist ein großer Junge, also denkst du für ihn, gängelst ihn - verstehst du?«
»Gott, Louise, das ist so anstrengend. Ich möchte einen Mann, der selbständig entscheidet und handelt.«
»Den gibt es nicht.«
»Bei Pearlie scheint es zu klappen.«
»Ich treffe seine Verabredungen, ich führe seine Bücher, schmeiße den Haushalt, ich bestimme über große Anschaffungen - er ist zu unüberlegt -, und ich lege ihm jeden Morgen seine Kleidung zurecht. Worum muß er sich schon kümmern? Um gar nichts. Er braucht bloß morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Das wird sich nie ändern, Julia. Die Frauen haben die Männer seit undenklichen Zeiten im Griff.«
»Kein Wunder, daß wir fix und fertig sind.«
In der Tiefe der Nacht war nur noch die Musik von Patience Horney zu hören, die dem Freibier reichlich zugesprochen hatte. Sie lag mitten auf dem Platz ausgestreckt auf dem Rücken und sang aus Leibeskräften >Sweet Marie<. Gelegentlich variierte sie dies mit einer innigen Wiedergabe von Silver Threads Among the Gold<.
Schließlich näherten sich beide Sheriffs dem Platz. Die Hälfte von Patience gehörte nach Pennsylvania und die andere nach Maryland. Patience war vermutlich der einzige betrunkene Mensch in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der sich mitten auf der Mason-Dixon-Grenze schlafen gelegt hatte. Nach einem ausführlichen Disput, wo sie ihren Rausch ausschlafen sollte, im Nordgefängnis oder im Südgefängnis, schlossen die beiden Männer einen Kompromiß und fuhren sie nach Hause.
Sich wach zu halten verlangte allen, die beim Luftschutz Dienst taten, das Äußerste ab. Manchmal döste Juts ein, dann weckte Louise sie auf, und umgekehrt. Keine von beiden bemerkte, wie sich Chessy nach dem Fest mit Buster fortschlich. Wenn weder Chessy noch Juts nachts zu Hause waren, hatte dies die verheerende Folge, daß Yoyo wild herumwütete. Gewöhnlich kam Chessy früh genug nach Hause, um den Schaden zu beheben.
Gegen 0400 - Louise hatte sich angewöhnt, die Militärzeit zu verwenden - schliefen beide Schwestern im Sitzen, an die Seite des Turmes gelehnt. Louise schlug als Erste die Augen auf. Sie hörte ein merkwürdiges Geräusch. Sie blickte zum Himmel und sah preußisch-blaue Kumuluswolken über sich. Sie wußte, daß da oben Flugzeuge waren - nicht eins oder zwei, sondern ein ganzes Geschwader.
Sie rüttelte Julia. »Juts, Juts, aufwachen!«
»Häh?«
Louise war aufgesprungen und versuchte die Flugzeuge zu sichten, die jetzt näher kamen. Sie bemühte sich, durch ihr Fernglas etwas zu erkennen, aber die Wolken spielten Verstekken mit ihr.
Juts rappelte sich hoch, lauschte angestrengt auf das Geräusch, doch für sie klang es nicht nach Motoren; fest stand nur, daß da oben etwas war.
»Licht an«, befahl Louise.
Julia rollte hastig die Plane zurück und schaltete den großen Suchscheinwerfer ein, der jedoch einen Moment brauchte, um warm zu werden. »Scheiße, ist das Ding schwer.« Sie richtete ihn geradewegs in den Himmel.
»Kannst du ihn nicht rumdrehen - da drüben hin.«
»Laß die Kommandiererei.«
»Ich trage hier die Verantwortung«, fauchte Louise.
»Ach Quatsch.«
»Wenn das da oben feindliche Flugzeuge sind, wirst du für vieles geradestehen müssen.«
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