»Ist doch wahr, Louise. Ich sehe, wie Menschen mit Mord durchkommen. Gott sitzt auf seinem dicken himmlischen Hintern, und nichts passiert. Ich meine, warum tötet er Adolf Hitler nicht? Wenn ich das Böse sehen kann, warum kann Gott es nicht sehen?« »Die Menschen versuchen seit Anbeginn der Zeiten, eine Antwort auf diese Frage zu finden.« Toots hievte sich schwerfällig vom Stuhl. Sie war müde und mußte sich bewegen, um wach zu werden.
»Diese Mysterien sind zu groß, als daß unser Verstand sie fassen könnte.« Louise wußte auch keine Antwort, aber dies klang jedenfalls tiefgründig.
»Glaub ich nicht.« Juts zog einen Flunsch.
Mary Miles sagte: »Vielleicht hat Gott die Welt erschaffen und dann links liegen lassen. Wir haben ihn gelangweilt.«
»Wozu bete ich dann überhaupt?«
»Juts, du betest nie, außer wenn du was willst«, tadelte Louise. »Das ist bei dir wie einkaufen.«
»Du kennst doch meine Gebete gar nicht.«
»Ich kenne dich«, erwiderte Louise.
»Keine Philosophie war jemals in der Lage, Antworten auf die großen Fragen zu finden - und wir werden es auch nicht können. Man lebt von Gottvertrauen und Gebet, Mädels.« Tante Dimps zuckte zusammen, als Louise einen Lockenwickler zu stramm drehte.
»Ich habe eine Philosophie. Geburt führt zum Tod.« Juts steckte Wattebäusche zwischen Mary Miles' Finger, damit sie sie nicht schließen und den frisch aufgetragenen Lack ruinieren konnte.
»Du bist heute aber grantig.« Louise warf ihr einen wütenden Blick zu. »Schalt mal ab und halt die Klappe.«
»Ich bin nicht grantig. Ich will wissen, was zwischen unserem Vater und meiner Schwiegermutter vorgefallen ist.«
»Wie ich dich kenne, platzt du mit der Frage einfach raus«, grummelte Louise.
»Da kommt Hansford, Juts. Das ist deine Gelegenheit.«
Er öffnete die Tür und lächelte. Aller Augen richteten sich auf ihn. »Hallo, Mädels.«
»Hallo«, antwortete Toots schließlich.
»Komm ich ungelegen?«
»Nein«, antwortete Louise, ohne aufzusehen.
»Hansford, setz dich einen Moment, ich bin gleich bei dir.« Juts schob den Manikürwagen zur Seite.
»Soll ich mich woanders hinsetzen, Julia?«, fragte Mary Miles, hibbelig vor Ungeduld.
»Nein. Toots' Stuhl ist die nächste Viertelstunde frei, und das hier dauert nicht lange. Toots, okay?«
»Klar.« Toots ging ins Hinterzimmer, um frischen Kaffee zu kochen.
»Komm.« Juts wies auf den Stuhl, und Hansford ließ sich dankbar auf den bequemen Sitz sinken. Sie betrachtete seinen Bart aus jedem Winkel. »Manche Leute sehen einen langen Bart und denken an Weisheit. Ich denke an Flöhe.«
Die Damen brachen in Gelächter aus, was sowohl an der Anspannung lag als auch an der Tatsache, daß Julia Ellen wieder die Alte war.
Die kühlen, glatten Karten fühlten sich vertraut an in Juts' Händen. Von Kind an hatte sie Kartenspiele geliebt. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie als Karodame verkleidet war, einen Buben als Diener, einen König als Gemahl. Sie konnte sich gut merken, welche Karten ausgegeben und welche im Stapel geblieben waren. Obwohl vier Jahre jünger als Louise, schlug sie sie schon mit sechs Jahren in Memory, Mau Mau und schwarzer Peter, was jedes Mal Geschrei, Gerangel und Tränen zur Folge hatte. Louise war eine schlechte Verliererin.
Yoyo hatte es sich auf Juts' Schoß gemütlich gemacht und schlief, und Buster schnarchte unter dem Kartentisch. Die alte Wanduhr in der Küche tickte; es war so still im Haus, daß Juts es hören konnte, obwohl sie im Wohnzimmer saß, eine Wolldecke um die Beine, um sich vor der Kälte zu schützen.
Sie hatte selten einen ruhigen Abend für sich. Gewöhnlich wollten Louise, Mary, Maizie oder Chessy etwas von ihr, und wenn nicht, riefen Freunde an oder kamen vorbei. Juts war gern unter Menschen, ganz besonders, wenn sie im Mittelpunkt stand, doch gelegentlich war sie sich selbst genug. So wie jetzt.
Sicher, sie war egozentrisch, aber sie war auch schlau genug zu wissen, daß die Welt sich nicht um sie drehte, so lieb es ihr auch gewesen wäre. Zucker, Kaffee und Benzin waren rationiert worden, eine Mahnung an sie und alle Übrigen, daß kleine Opfer gebracht werden mußten, damit andere Menschen größere bringen konnten. Letzte Woche hatte die Schlacht in der Javasee diese Opfer deutlich gemacht. Am 27. Februar, vergangenen Freitag, hatte ein kleines Geschwader von Schiffen der Alliierten die japanische Flotte angegriffen, die einen Invasionskonvoi schützte. Die zahlenmäßig unterlegenen Alliierten hatten den Kampf mit den Japanern aufgenommen. Am 1. März waren die alliierten Streitkräfte ausgelöscht. Die Evakuierung von Rangun schien so gut wie sicher.
Als Juts ihre Karten in einer Siebenerreihe für eine Patience auslegte, einem ihrer Lieblingsspiele, stellte sie sich vor, an Deck eines Zerstörers zu sein. Torpedos krachten in die Schiffsseiten, überall war der Geruch von Rauch und Flammen, ein Schiff hatte schwere Schlagseite, Männer schrieen, Kanonen feuerten, und über allem die entsetzliche Erkenntnis, daß sie untergingen, alle Mann an Deck. Sie fragte sich, ob die Angst die Oberhand gewann oder ob man so wütend wurde, daß man beschloß, so viele Feinde wie möglich mit in den Tod zu reißen.
Sie wollte den Tod nicht erkennen. Sie hoffte, er würde sich unverhofft an sie heranschleichen. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen. Die armen Männer auf dem Grund der Javasee hatten dem Tod ins Auge geblickt.
Sie legte die Karovier auf eine Kreuzfünf. Dies würde eine lange Partie werden.
Über ihre Karten gebeugt, verscheuchte sie die Gedanken an den Tod. Sie dachte an Hansford. Sie hatte ihn rundheraus gefragt, was mit Josephine Holtzapple gewesen sei.
»Nichts.«
Mehr konnte sie nicht aus ihm herausquetschen, und Coras Antwort lautete: »Laß die Vergangenheit ruhen.«
Sie zog das Pikaß und das Herzaß. Sie hatte den Stapel in ihrer Hand noch gar nicht gebraucht. Das Spiel ließ sich gut an.
Yoyo drehte sich auf den Rücken, streckte eine Pfote in die Höhe, schlug die Augen auf und machte sie laut schnurrend wieder zu.
»Als ich das letzte Mal eine Patience gelegt habe, bist du auf den Tisch gesprungen und hast mir das Spiel verdorben.«
Yoyo schnurrte nur noch lauter.
Juts zog den Herzkönig, nachdem sie eine Karte plaziert hatte. Sie legte ihn an die Stelle links außen, die gerade frei geworden war, weil sie eine schwarze Sieben auf eine rote Acht hatte legen können.
Chessy wirkte in letzter Zeit reserviert. Sie schrieb dies seinem Termin bei Dr. Horning zu. Auch sie war nervös. Sie fühlte sich unvollständig ohne Kind. Um so schlimmer, daß Louise es ihr dauernd unter die Nase rieb. Juts hatte gedacht, die Ehe würde sie vollständig erfüllen. Sosehr sie Chessy liebte, die Ehe war nicht das allein Seligmachende, von dem sie geträumt hatte, als sie jung war.
Die Ehefrau mußte sie erst noch finden, die nicht für ihren Mann dachte. Manche Frauen mußten ihre Männer hintergehen, andere mußten sie sabotieren. Wieder andere verbrachten Tage, Wochen und Monate damit, ihren Männern weiszumachen, daß ihnen ein bestimmter Gedanke ganz von selbst gekommen sei, wenn er ihnen in Wirklichkeit von der Ehefrau eingepflanzt worden war. Das kostete sehr viel Energie. Chester konnte sie wenigstens direkt herumkommandieren.
Sie fragte sich, ob Männer unfähig waren, vorauszudenken, oder ob ihre Gedanken sich einfach vollkommen von denen der Frauen unterschieden. Sie dachte daran, ihr Haus abzuzahlen, Geld für den Notfall beiseite zu legen - nur tat sie es nie -, und dann dachte sie an ihre Freunde, ihre Feinde und schließlich an Kleider. Kleider machten Frauen. Daran glaubte sie fest, und sie war überzeugt, daß Louise von den maßgeblichen Leuten nie Ernst genommen würde, weil sie zu viel Mode schmuck trug. Caesura Frothingham trug ganz sicher zu viel Schmuck - dicke Klunker vor Sonnenuntergang. Wirklich schauerlich. Aber Louise fuhr für ein klirrendes Armband nach Baltimore und zurück. Um so besser, wenn auch die Ohrringe Töne von sich gaben.
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