An den Wänden ihres kleinen Büros in der evangelischen Kirche waren Plakate mit Flugzeugsilhouetten angebracht, wie man sie vom Boden aus sah. Chessy stellte anhand von kleinen Tests fest, was sie gelernt hatten, wozu auch die feindlichen Kennzeichen gehörten, das schwarze Kreuz mit weißen Rändern für die deutschen Flugzeuge und die rote Sonne auf japanischen Flugzeugen.
Jede Nacht schoben zwei Personen Wache. Tagsüber war es einfacher, weil man die Flugzeuge sehen konnte. Chessy, der von Frauen überrannt wurde, die ihren Teil beitragen wollten, stellte fest, daß die Leute ihn respektierten. Sie wollten mit ihm arbeiten. Er war überrascht und erfreut.
Trotz aller Übung war es schwierig, am Nachthimmel ein Flugzeug allein anhand seiner Form zu identifizieren.
Chester trieb bei einer Schrotthandlung in Philadelphia ein großes Flakgeschütz und einen Flugabwehrscheinwerfer auf. Sie stammten aus dem Ersten Weltkrieg und funktionierten noch. Das Eintreffen der Flugabwehrausrüstung war ein triumphaler Moment für Chessy und seine Leute vom Warndienst. Im Kellergeschoß der evangelischen Kirche, wo die Versammlung stattfand, entbrannte ein hitziger Streit darüber, ob man sie beim Turm der Feuerwache oder auf dem Runnymede Square aufstellen sollte. Louise wollte den Flugabwehrscheinwerfer und die Kanone auf dem Platz haben, weil der Weg dorthin für sie kürzer war; sie erklärte allerdings, so sei es für alle eine Mahnung an den Krieg.
Caesura und Agnes wollten sie am Wachturm haben, näher bei sich zu Hause.
Schließlich stand Digby auf, hob seinen Taktstock und bat um Ruhe. Er schlug vor, den Flugabwehrscheinwerfer mit einem Kran in den Feuerturm zu heben; auf diese Weise könnten die beiden, die Geschütz und Scheinwerfer bedienten, zusammen sein, was hilfreich wäre, sollte der Ernstfall eintreffen. Er sei sicher, daß ein feindliches Flugzeug zu dem Scheinwerfer hinunterschnellen und versuchen würde, ihn zu zerstören, deshalb müsse das Geschütz ebenfalls dort aufgestellt sein. Falls einer verwundet würde, könne der andere einspringen.
Louise beharrte darauf, daß ihr Vorschlag besser sei. Wenn ein Flugzeug den Turm angriffe, müßten beide Leute dran glauben. Wenn sie getrennt wären, würde einer von beiden vielleicht überleben. Sie wies auch darauf hin, daß der Feuerturm ein Dach hatte, wodurch ein Teil des Lichtstrahls ausgeblendet würde.
Chessy besänftigte die Gruppe schließlich, indem er sagte, wenn ein Flugzeug sie überflöge, wäre es höchstwahrscheinlich ein Aufklärungsflugzeug. Ihre Aufgabe sei es, dies unverzüglich Colonel Frank Froling in der Waffenmeisterei in Hagerstown zu melden.
Louise polterte, es könnte mehr sein als nur ein Aufklärer - man sehe ja, was soeben in Hawaii passiert sei. Und was tat die Luftabwehr in der Waffenmeisterei?
Chester erklärte geduldig, in der Waffenmeisterei gebe es Sondertelefonleitungen nach Baltimore und Washington. Eingedenk der Erschütterung, die das Land soeben erlitten hatte, war der Zivile Luftschutz gut organisiert, auch wenn sich sein Hauptquartier in einer Waffenmeisterei befand.
Louise wollte den großen Scheinwerfer trotzdem auf dem Platz haben. Die Auseinandersetzung zog sich bis in die Nacht hinein. Digby Vance, müde und aufgebracht, schlug vor, die Entscheidung Colonel Froling zu überlassen.
Chester widersprach, weil der Colonel sonst das Vertrauen in sie verlieren würde. Sie müßten die Angelegenheit selbst regeln. Um ein Uhr morgens erreichten sie einen Kompromiß: Sie würden auf dem freien Grundstück hinter der episkopalischen Kirche St. Paul einen neuen Turm ohne Dach bauen. Bis der errichtet war, würden der Scheinwerfer und das Geschütz mitten auf dem Platz aufgestellt, rittlings auf der Mason-Dixon-Grenze. Die große Luftangriff-Sirene blieb im Feuerturm, solange der neue Turm gebaut wurde. Chester betete, er möge schnell fertig werden, was zum Glück auch geschah. Sodann wurde alles in den Turm geschafft.
Der Montagsbetrieb wurde gedämpft durch die Nachricht, daß Singapur an die Japaner gefallen war. General Percival, dem es an Wasser, Nahrung, Treibstoff und Munition fehlte, hatte sich ergeben. Die Leute, die sich bei Cadwalder an der Theke drängten oder zum Frühstück in eine Nische quetschten, fragten sich, wie sie schnell genug mobil machen konnten, um die japanische Dampfwalze und den deutschen Moloch aufzuhalten. Der Clarion schätzte, daß sechzigtausend Angehörige der englischen und der Streitkräfte des Empire gefangen genommen worden seien; die Trumpet dagegen nannte die etwas bescheidenere Zahl von fünfzigtausend. Alle fragten sich, was mit den Gefangenen geschehen würde.
Julia Ellen und Louise, erschöpft vom Dienst beim Zivilen Luftschutz in dieser eisigen Nacht, tranken Kaffee, aßen Hafergrütze, Eier, Speck und Biskuits, und langsam wurde ihnen warm.
»Ich freue mich auf den Frühling«, stöhnte Juts. »Meine Orioles müssen dieses Jahr besser werden.« Juts verweilte nicht gern beim Thema Krieg.
»Es kann nicht schlimmer werden als letztes Jahr«, erklärte Flavius hinter der Theke. »Die Birds haben ein neues Tief erreicht.«
»So viele Baseballprofis wurden eingezogen«, warf Harper Wheeler ein.
Die Nachteulen auf dem Weg nach Hause ins Bett und die Frühaufsteher fanden sich jeden Morgen um halb sechs gemeinsam bei Cadwalder ein. O. B. Huffstetler kam herein und setzte sich zu Harper.
»Morgen, Sheriff.«
»Morgen, O. B. Nehme nicht an, daß Miss Chalfonte heute ausreitet.«
»Nee. Montag haben wir Ruhetag.«
»Wann lassen Sie mich mal in dem protzigen Kombi mitfahren?«, rief Juts aus ihrer Nische.
»Jederzeit.« »Prima. Dann können Sie uns ja nach Hause bringen.«
»Juts, du bist aufdringlich.«
»Ich weiß, aber.«
»Macht überhaupt nichts.« O. B. lächelte.
»Sheriff«, rief Louise.
»Ja.«
»Nichts Neues in Sachen Noe?«
»Hören Sie, Louise, über bestimmte Aspekte dieses Falls kann ich nicht sprechen.«
Juts meldete sich zu Wort. »Sie sollten sich mal mit Hansford unterhalten. Er hat nichts zu tun als Sattelzeug zu reparieren, zu reden und zu denken. Das Denken überrascht mich.«
Sie machten sich wieder über ihr Essen her. Louise las laut aus Walter Winchells Kolumne vor, die in mehreren Zeitungen erschien, und Juts bestellte noch mal Biskuits und Hafergrütze.
Junior McGrail kam hereinmarschiert.
Trudy Archer stürmte herein, in einen langen schokoladenbraunen Mantel mit einem Besatz aus gefärbtem Kaninchenfell gehüllt. Die Männer an der Theke strafften ein wenig die Schultern. Trudy nahm ihren Hut ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und knöpfte ihren Mantel auf. Sie zwängte sich zwischen Harper und Junior. Nur gut, daß sie so schlank war.
»Hallo.«
»Hallo. Wie darf s sein heute Morgen?«, fragte Flavius mit breitem Lächeln. Wenn er lächelte, sah er aus wie sein Sohn.
»Knusprig, wie immer.«
Harper säuselte: »Das hör ich gern.«
Juts rief aus ihrer Nische: »Hören Sie nicht auf ihn. Alles leeres Geschwätz.«
Harper lachte, und Trudy drehte sich zu den Schwestern Hunsenmeir um. »Guten Morgen.«
»Was macht die Tanzschule?«, erkundigte sich Louise höflich.
»Blüht und gedeiht.«
»Ich wünschte, Sie könnten meinen Chessy zum Tanzen kriegen.« Julia blickte arglos vom Sportteil auf. »Ihm bricht allein bei dem Gedanken der kalte Schweiß aus.«
Trudy erwiderte ruhig: »Ich würde es Chester gern beibringen. Er hat sicher Talent.«
»Danach suche ich noch immer«, ulkte Juts.
Sie bemerkte Trudys Ohrringe, die gleichen, die Chessy vor Weihnachten bei Epstein in der Hand gehalten hatte. Sie fragte sich, ob Trudy sie gekauft oder ob ein Verehrer sie ihr geschenkt hatte. Ihr gefiel zwar das Armband, das sie von Chessy zu Weihnachten bekommen hatte, aber diese Ohrringe hatten es ihr einfach angetan. Sie überlegte, ob Epstein wohl noch so ein Paar besorgen könnte, allerdings konnte sie es sich sowieso nicht leisten.
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