Sagte man der deutschen Bevölkerung die Wahrheit? Vielleicht wußten sie da drüben nicht Bescheid?
Ein Frösteln durchfuhr sie. Vielleicht wissen wir auch nichts. Sagt man uns die Wahrheit?
Wenn Popeye Huffstetler ein Musterbeispiel der freien Presse ist, dann gnade uns Gott, dachte sie.
Dann dachte sie an das große Plakat im Postamt. Es zeigte Menschen beim Schwatzen in einer Rüstungsfabrik, hinter ihnen ein von Torpedos getroffenes sinkendes Schiff. >Pst, Feind hört mit<, stand als Warnung darunter.
Die Sänger hatten >It Came upon a Midnight Clear< angestimmt, Juts' liebstes Weihnachtslied.
Sogar Mutter Smith auf der anderen Seite des Baumes schien sich zu freuen.
Maizie fragte Cora, ob sie glaube, daß die Menschen in Deutschland Weihnachtslieder sängen.
»Das nehme ich an.« Cora gab ihr einen Doughnut mit rotem Zuckerguß. Diese Sorte hatten die Yosts eigens zu diesem Anlaß gebacken.
»Ich versteh das nicht.« Maizie blinzelte.
»Was?« Cora behielt den Taktstock im Auge.
»Dann sind sie wie wir.«
»Mehr oder weniger.« Cora war startbereit für >Good King Wenceslas.<
Maizie sang mit ihrer Großmutter. Die Erwachsenen machten das Leben kompliziert. Wenn sie in der Welt zu sagen hätte, würde es keine Kriege geben, das stand für Maizie fest.
Nach dem Gesang tauschten die Menschen Nettigkeiten, Küsse, Umarmungen, Speisen und Getränke aus. Die bittere Kälte wurde mit innerem Feuer bekämpft. Für einen Abend wurden häusliche Querelen beiseite geschoben, finanzielle Nöte vergessen, zerbrochene Liebschaften übergangen und alte Feindschaften unterdrückt. Der Heilige Abend in Runnymede war dem Himmel so nahe, wie es menschenmöglich war.
Juts schwebte auf einer Wolke nach Hause, bis sie die Tür öffnete und entdeckte, daß ihre Dekorationen zerfetzt, die Geschenkpäckchen unter dem Baum zerrissen und die Kugeln, bis zu einer Höhe, die Yoyo erreichen konnte, in glitzernden bunten Splittern auf dem Boden zerschellt waren.
Dies war der schlüssige Beweis dafür, daß Katzen keinen Sinn für Weihnachten haben - ja vielleicht nicht einmal Christen sind.
Beim Weihnachtsessen bei Cora aßen alle wie die Scheunendrescher.
Juts hob ihr Glas. »Auf 1942, Louise. Bis Mai haben wir Flavius alles zurückgezahlt.«
»Bis auf den letzten Penny.« Chessy stieß mit seiner Frau an.
»Auf das Ende dieses Krieges, bevor - ihr wißt schon.« Mary hob ihr Glas.
Alle tranken und plauderten und beschenkten sich. Juts erging sich in Oohs und Aahs über das schöne goldene Armband, das sie von Chester bekam. Sie vermutete, daß die Ohrringe, die sie gern gehabt hätte, für seine Mutter bestimmt waren, die blöde Kuh. Ihr würden sie viel besser stehen. Trudy hatte Chester einen Spazierstock geschenkt. Er hatte ihn im Laden ausgepackt. Chester hatte Trudy die goldenen Muschelohrringe geschenkt. Er wußte nicht genau, ob es sich schickte, ihr Ohrringe zu schenken - vielleicht hätte er Parfüm nehmen sollen -, aber die Ohrringe paßten zu ihr.
Pearlie stand auf. »Ich geh Patience Horney holen.«
»Ach ja?« Louise roch den herrlichen Duft von Kirschholz im Kamin.
»Ihre Angehörigen sind alle tot, und sie ist allein. Ist mir gerade eingefallen.«
»Wirklich? Ist Rollie Englehard dieses Jahr gestorben?« Juts verlor den Überblick über die Zeit. »War das dieses Jahr?«
Rollie war Patiences letzter noch lebender Cousin gewesen.
»Ich glaube schon«, erwiderte Cora.
»Bin gleich wieder da.« Pearlie griff nach Hut und Mantel. Chessy begleitete ihn.
Zwanzig Minuten später kamen sie mit Patience zurück, die so glücklich war, daß sie unentwegt brabbelte. Das trieb den anderen die Tränen in die Augen, nicht nur, weil es sie freute, Patience glücklich zu sehen, sondern weil jeder von ihnen eines Tages in Patiences Lage geraten konnte. Niemand sieht voraus, was geschieht. Und es geschieht verdammt schnell.
Mary Miles Mundis behauptete, sie hätte den sechsten Sinn - eine schicke Vorstellung, da die meisten Menschen noch nicht mal ihre ersten fünf Sinne beisammen haben: Der Mensch nimmt wahr, was er wahrnehmen will.
Bei Chester, dem es nicht gegeben war, Streit zu suchen, um seine Intelligenz unter Beweis zu stellen, gingen solche Denkweisen zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Er gehörte zu den Männern, die ihre Frauen dazu treiben, ständig zu fragen: »Hörst du mir überhaupt zu?« Chessy grübelte nicht über den sechsten Sinn nach, aber wenn er ein wenig mehr auf sich und andere geachtet hätte, dann hätte er gewußt, was da um die Ecke gerasselt kam wie ein entgleister Straßenbahnwagen. Vielleicht hätte er sich retten können.
Um fünf verließ er die Eisenwarenhandlung, um seine Mutter zu besuchen. Sie rollte gerade Pastetenteig aus und drohte ihm mit dem Nudelholz. »Du kommst spät.«
Augenbohnen brodelten in einem Topf auf dem Herd, denn an Neujahr, das am kommenden Abend um 0 Uhr 01 begann, mußte sie Augenbohnen essen, weil sie ihr Glück brachten. Mutter Smith kochte sie erst, ließ sie dann bei ganz kleiner Hitze köcheln, gab hin und wieder Wasser und Sirup zu.
Chester erwiderte nichts, sondern ging in den Keller, um nach der Heizung zu sehen. Der Kohlenlieferant hatte die Tür zur Kohlenrutsche offen gelassen, und die eisige Luft wehte herein. Chessy schloß die Tür und schaufelte Kohlen in den Heizkessel. Er klopfte sich den Staub ab, als er die Holztreppe hinaufging, die bei jedem Schritt hallte. »Tommy hat die Tür aufgelassen.«
»Dieser Junge.« Sie schüttelte den Kopf. »Der wird nie imstande sein, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen.«
»Er hat sich verpflichtet. Vielleicht ist er reifer, wenn er nach Hause kommt.«
»Tom West hat sich verpflichtet?«
»Zur Armee. Ted Baeckle hat mir erzählt, er hat bei dem Eignungstest so gut abgeschnitten, daß er nach der Grundausbildung auf die Offiziersschule gehen wird.«
»Das ist erstaunlich.«
»Ich weiß nicht, Mutter, vielleicht ist Tommy West einfach nur zur rechten Zeit am falschen Ort. West und Co. kann auch jemand anders leiten.«
»Lächerlich. Wo hast du bloß diese Ideen her? Von Juts?« Sie blinzelte.
»Weißt du, Mutter, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Und bin selbst ein wenig erstaunt.« Sein Tonfall war scharf. »Mir ist klar geworden, daß ich nicht dich und Juts zugleich glücklich machen kann. Wenn ich etwas für dich tue, regt sie sich auf. Wenn ich etwas für sie tue oder ihrer Meinung bin, regst du dich auf. Ich habe beschlossen, es mir selbst recht zu machen. Dann ist wenigstens einer glücklich.« Weg war er.
Es schneite wieder, also fuhr Chessy langsam zur Tanzschule und parkte wie immer in der Gasse. Er nahm zwei Stufen auf einmal und stieß die Tür auf. Trudy trug die hübschen goldenen Muschelohrringe.
»Laß uns tanzen.« Er lachte, riß sie in seine Arme und küßte sie. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuß. Eins stand fest, für Chester Smith würde das Jahr 1942 anders aussehen als das Jahr 1941.
Yoyo kuschelte sich in die Wolldecke, die Juts sich um die Beine gezogen hatte, als sie sich vor dem lodernden Feuer auf dem Sofa niedergelassen hatte. Buster lag, den Kopf auf den Pfoten, vor Juts auf dem Boden, weil Yoyo ihn nicht aufs Sofa ließ.
»Ich hab dir ja gesagt, du sollst beim Weihnachtssingen, einen Hut aufsetzen.«
Louises Vorhaltungen waren in diesem Augenblick nicht willkommen. »Das sagst du jedes Mal, wenn auch nur ein Tropfen Feuchtigkeit in der Luft liegt, Louise. Du brauchst dir nichts drauf einzubilden, daß du ausnahmsweise mal Recht hattest.«
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