»Du bist keine brave Patientin.« Louise gab ihr einen heißen Tee. »Komm, Juts, trink einen Schluck davon.«
»Silvester, eine meiner Lieblingsnächte im ganzen Jahr, und ich liege krank zu Hause. Das ist genauso schlimm wie damals, als ich Weihnachten die Masern gekriegt habe.«
»Das war 1909!«
»Na und?« Juts kuschelte sich tiefer in die Decke und schob dabei die Zeitung auf den Boden.
Die Schlagzeile des Clarion lautete: »Düsseldorf bombardiert.«
Wheezie hob die Zeitung auf und legte sie ordentlich zusammen. »Jetzt kriegen es die Deutschen wohl heimgezahlt.«
»Man hätte meinen sollen, sie wären so schlau einzusehen, daß, wenn sie London bombardieren, die Engländer über den Kanal fliegen und sie bombardieren.« Sie setzte sich etwas gerade auf und griff nach der Teetasse. »Kannst du dir das vorstellen, Wheezie, du bist hoch in der Luft, und vom Boden her wird auf dich geschossen, und andere Flugzeuge kommen und knallen dich vom Himmel runter? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, und dann die kalte Luft, wenn die Bombenklappen aufgehen.« Sie schauderte.
»Ich könnte zu Lande kämpfen, aber ich könnte kein Pilot oder Seemann sein.« Louise verschränkte die Arme. »Ich möchte jederzeit festen Boden unter den Füßen haben. He, wo ist Chessy?« »Ziviler Luftschutz, Dringlichkeitsversammlung. Er lernt das Morsealphabet und Flaggenwinken.«
»Wenn die Japaner Pearl Harbor von Flugzeugträgern aus bombardiert haben, warum können die Deutschen das nicht auch?«, fragte Louise.
»Haben die Deutschen Flugzeugträger?«
»Weiß ich nicht, aber sie haben U-Boote.« Louise blickte ins Feuer.
»Ich glaube, ich sollte ihn mit dir und Pearlie auf die Feier gehen lassen, was meinst du?«
»Hm, er kann nicht tanzen. Dann sitzt er bloß rum und guckt uns zu.«
»Trinken und Konfetti werfen kann er so gut wie ihr alle.« Juts' Lachen ging in Husten über.
Buster bellte, bevor die Ohren der Menschen das Reifengeräusch wahrnehmen konnten. Wenig später hörten Juts und Louise das Auto und sahen die Lichter, die kurz darauf ausgeschaltet wurden.
Chessy stieß die Hintertür auf, den Arm voller Lebensmittel. »Hallo.«
»Hallo, Chess.« Louise ging in die Küche, um ihm die Tüten abzunehmen. »Die Patientin ist« - sie senkte die Stimme - »brummig.«
»Ihr sprecht über mich«, rief Juts aus dem Wohnzimmer. »Ich weiß es.«
Chester ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, seine Miene war ernst. »Wir haben über dich gesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Tuberkulose. Das Ende naht.«
Aus der Küche, wo Louise die Lebensmittel wegräumte, erklang ein Choral.
»Du würdest das nicht komisch finden, wenn du am Silvesterabend krank wärst«, schmollte Juts.
Louise kam mit Orangensaft und einer Flasche Gin, Silvesterhütchen und Fähnchen herein. »Juchhu!«
Juts lächelte. »Chester, war das deine Idee?«
»Ja.«
»Ich tu nur einen ganz kleinen Schuß Gin in den Orangensaft, weil du krank bist. Du wirst sturzbesoffen, wenn du nicht aufpaßt.« Louise maß den Gin ab, goß ihn in einen großen Glasbecher, gab den Orangensaft dazu und mischte den Drink. Dann schenkte sie die helle Flüssigkeit in Martinigläser, die Chester zur Feier des Tages herausgeholt hatte.
»Heißt das, ich soll mich betrinken, und du läßt mich dann allein?«, fragte Juts ihren Mann beschwörend.
»Nein, es heißt, wir feiern unser eigenes Fest.« Er setzte ein Hütchen auf.
Louise setzte sich auch eins auf, dann bückte sie sich, um Buster zurechtzumachen, der den Kopf hin- und herschlug und versuchte, das Ding abzuschütteln, was ihm schließlich auch gelang. Yoyo beäugte Louise mißtrauisch. Louise versuchte gar nicht erst, ihr ein Hütchen aufzusetzen.
Juts suchte sich ein lila Hütchen mit einer kleinen knallgrünen Quaste aus. »Junior McGrails Farben«, ulkte sie. Sie hob ihr Glas. »Prost.«
»Auf ein frohes, gesundes neues Jahr.« Louise hob ihr Glas, aus dem sie nicht trank, um ihrem Ruf, keinen Alkohol zu trinken, gerecht zu werden. Gelegentlich vergaß sie es, doch heute hatte sie ihren tugendhaften Abend.
»Louise.« Juts forderte sie mit einer Handbewegung zum Trinken auf.
»Nein, ich glaube, ich schenke mir ein Glas Orangensaft ein.«
»Dann brauchst du den hier ja nicht.« Chester kippte ihren Drink herunter.
Als es draußen hupte, sprang Louise auf. »Mach's gut, Schwesterherz, frohes neues Jahr, gute Besserung.«
»Bis Freitag geht es mir wieder so gut, daß ich arbeiten kann, keine Sorge.«
»Okay.«
»Frohes neues Jahr, Chester.« Louise küßte ihn auf die Wange, bückte sich und gab Juts einen Kuß, dann schwirrte sie aus der Tür.
»Gehst du nicht mit?«
Chester schüttelte den Kopf. »Ohne dich macht es keinen Spaß.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst.« Er schaltete das alte Radio ein. Sie sangen mit, schwenkten ihre Lärminstrumente, worauf Buster zu bellen anfing. Yoyo ignorierte die ganze würdelose Prozedur. Chester fühlte sich nicht wie ein untreuer Ehemann. Es war eigenartig, aber irgendwie liebte er Juts mehr als vorher.
Um Mitternacht ging er mit einem großen Topf und einer Kelle nach draußen, um das neue Jahr einzuläuten. Juts brüllte »Frohes neues Jahr« und schlief danach prompt ein.
Von Pearl Harbor abgesehen schien der Krieg noch weit entfernt, aber wenn Juts über die rutschigen Wege auf dem Platz schlitterte oder, mit eingezogenen Schultern die Kälte abwehrend, bei Yosts Doughnuts kaufte, sah sie immer weniger junge Männer.
Albert Barnhart, Lillian Yosts jüngerer Bruder, war der Letzte, der eingezogen wurde. Er ging zur Küstenwache. Im Scherz sagte er zu den Hunsenmeir-Schwestern, er tue das nur, damit er einen kostenlosen Haarschnitt und Lillian ihre Fingernägel manikürt bekäme.
Weil sie nicht weniger patriotisch dastehen wollten als der Dickmops auf der anderen Seite des Platzes, hatten Juts und Louise eine große, kostspielige Anzeige in den Clarion und in die Trumpet gesetzt und einen kostenlosen Haarschnitt für Soldaten und eine Maniküre zum halben Preis für deren Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Freundinnen angeboten. Der Laden brummte.
Von beiden Bürgermeistern schwer bedrängt, erklärte sich Celeste bereit, sich beim Roten Kreuz zu engagieren, was endloses Spendensammeln bedeutete. Chessy übernahm dafür weitere Pflichten beim Zivilen Luftschutz. Seine Tanzstunden am Dienstagabend behielt er bei. Gelegentlich ging er, wenn er Buster ausführte, in Trudys kleine Wohnung, aber das konnte er nicht zur Gewohnheit machen.
Der Zivile Luftschutz gewann Louise, Fannie Jump Creighton, Lillian Yost, Agnes Frost und die ganze Familie BonBon, soweit sie über achtzehn waren, für sich. An Männern schlossen sich Digby und Zeb Vance sowie O. B. Huffstetler an. Chessy mußte auch Runnymedes zwei Sheriffs ausbilden. Celeste ließ ihre Verbindungen in Washington spielen, um an die neuesten Instruktionsfilme zu kommen.
Die Ausbildung war härter, als die Freiwilligen erwartet hatten. Juts und Louise erlernten das Morsealphabet mühelos, aber Lillian Yost hatte schwer damit zu kämpfen.
In ihren Armee-Uniformen, Restbestände aus dem Ersten Weltkrieg, exerzierten sie mit Holzgewehren, bis sie Blasen bekamen. Fannie Jump nörgelte, das Exerzieren sei absurd. Ihre Aufgabe sei es, Flugzeuge zu identifizieren und die Bewohner im Falle einer Bombardierung in Sicherheit zu bringen. Wütend warf sie ihr Holzgewehr hin. Chester befahl ihr mit seiner tiefsten Baritonstimme, es aufzuheben. Sie gehorchte und marschierte weiter. Alle waren beeindruckt von der Art und Weise, wie Chester Fannie anherrschte.
Die Mitglieder des Zivilen Luftschutzes sahen die Filmvorführungen mit entschlossener Konzentration. Sie prägten sich deutsche, japanische und italienische Flugzeuge ein. Die Filme zeigten die Maschinen von allen Seiten, auch von unten und oben.
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