»Alle sind erschüttert.«
Sie senkte die Stimme. »Haben Sie sich rekrutieren lassen?«
»Ted nimmt mich nicht. Er sagte, ich sei ein alter Mann.«
»Sie sind überhaupt nicht alt.« Sie sah ihn an.
»Hm - wie auch immer, Ted hat mich zum stellvertretenden Chef des Zivilen Luftschutzes ernannt. Wenigstens tu ich was.«
»Ich bin froh, daß Sie nicht fortgehen.«
Seine Augen strahlten belustigt. »Es gefällt Ihnen wohl, jeden Dienstag auf die Zehen getreten zu bekommen.«
Sie erwiderte nichts. Im Laufe der Unterrichtsstunde fügte sie Drehungen und Wendungen in den Walzer ein, einen Tanz, den sie beide genossen. Chessy verlor allmählich seine Hemmungen und entwickelte sich zu einem guten Tänzer.
Nach jeder Stunde setzten sie sich gewöhnlich für ein paar Minuten hin und plauderten.
»Geht es Ihnen gut? Sie wirken etwas bedrückt.«
Sie faltete die Hände und beugte sich vor. »Was, wenn die Japaner mit ihren Flugzeugträgern an die Westküste fahren? Sie könnten San Francisco und Seattle bombardieren. Es wird lange dauern, unsere Flotte wiederaufzubauen.«
»Ich nehme an, uns sind noch ein paar Schiffe in San Diego und Newport News geblieben. Es würde zu einer Seeschlacht kommen, bevor so etwas wie in Pearl Harbor noch einmal passieren könnte. Die Marine führt täglich Aufklärungsflüge durch. Das hoffe ich zumindest.«
»Und wenn die Deutschen nach dem Erfolg der Japaner nun denken, sie könnten uns angreifen? Vor dem Hafen von Baltimore sollen U-Boote gesichtet worden sein.«
»Die Engländer konnten Baltimore nicht einnehmen, und die Deutschen werden es auch nicht können. Der Staat Maryland mag ja winzig sein, aber wir sind zäh.« Er lächelte. »Also meine Mutter, die kann sich ängstigen, und Julias Schwester Wheezie - das ist auch so eine. Sie ängstigen sich genug für uns alle. Seien Sie unbesorgt - denn Josephine Smith und Louise Trumbull ängstigen sich für Sie mit.«
Das brachte sie zum Lachen, was ihre hübschen Züge noch reizender machte. »Sie haben Recht. Ich wünschte, ich wäre so geistreich wie Sie.«
Jetzt lachte er. »Trudy, Sie sind die erste Frau, die mich jemals geistreich genannt hat.« Er stand auf. »Ich muß nach Hause. Bis nächsten Dienstag.« Er zögerte einen Moment. »Die Tanzerei macht mir richtig Spaß. Sie sind eine gute Lehrerin. Ich hätte nie gedacht, daß ich tanzen lernen könnte.«
»Danke.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich weiß, Sie wollten in den Krieg ziehen, aber ich bin so froh, daß Sie uns hier beschützen werden.« Sie küßte ihn auf die Wange.
Auf dem ganzen Weg die Hanover Street hinunter spürte er ihre Lippen wie Feuer auf seiner Wange.
»Was meinen Sie?«, fragte Harper Wheeler, der Sheriff von Süd-Runnymede, den Bäcker Millard Yost, Chef der freiwilligen Feuerwehr.
»Brandstiftung. Hat nicht mal versucht, die Spuren zu beseitigen.« Millard zeigte auf herumliegende Lappen und Benzinkanister.
»Ein verteufelter Hinweis.« Harper spuckte auf die wassergetränkte Erde, wo sich in der bitterkalten Nachtluft schon Eis bildete.
»Ja.« Millard sah seinen Männern beim Aufrollen der Schläuche zu.
Chessy fuhr mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz von Sans Souci, Fannie Jump Creightons Nachtclub, der neben dem Fleischlagerhaus stand, welches das Ziel des Brandstifters gewesen war. Die Autos der freiwilligen Feuerwehren von Nord- und Süd-Runnymede nahmen fast den ganzen Parkplatz ein. Der Brand war zwar auf der Südseite, aber die Feuerwehren standen einander bei und pfiffen auf die Staatsgrenze.
Chessy eilte hinzu, um Pearlie zu helfen, der mit rotem Gesicht Schläuche schleppte. »Mist, das muß ausgerechnet in der Woche passieren, wo ich frei habe.«
Pearlie grunzte. »Ich konnte verdammt noch mal nichts tun.«
»Du hast verhindert, daß es auf Fannies Club übergreift. Das ist schon eine Menge.« Er bemerkte Fannie, die in ihren teuren Bibermantel gehüllt in ihrem Buick saß. »Hat sie Alarm geschlagen?«
»Ja, zuerst hat sie ihren Club geräumt und dann den Strom abgestellt. Das hat sie hier drüben auch versucht, aber es war schon zu spät.«
»Du brauchst mich hier ja nicht. Ich sehe nach Fannie.«
Er klopfte ans Autofenster. Sie kurbelte es herunter. »Fannie, alles in Ordnung?«
Sie nickte grimmig.
Als er sich auf den Beifahrersitz setzte, kurbelte sie das Fenster wieder hoch. Matilda, die Katze vom Lagerhaus, hatte sich voller Panik, aber unversehrt, in Fannies voluminösem Mantel vergraben.
»Wissen die Mojos es schon?«
»Ich hab's Orrie noch nicht gesagt, und Noe ist in Washington.«
»Oh.« Chester zögerte. »Was macht er da?«
»Er wollte sich nicht hier in die Schlange stellen; er schämt sich so, weil er Japaner ist. Deshalb ist er nach Washington gefahren, um unseren Kongreßabgeordneten zu bitten, ihn zu rekrutieren. Noe hat viel für seine Wahlkampagne getan, wie Sie wissen.«
»Herrgott noch mal!« Chester fluchte selten in Gegenwart einer Dame. »Hups - Verzeihung, Fannie.«
»Ich sage noch viel schlimmere Sachen.«
»Er hat Pearl Harbor nicht bombardiert. Warum soll er sich schämen? Hätte ich das nur gewußt. Ich wäre nie auf so einen Gedanken gekommen.«
»Jemand anders schon.« Sie blickte zu dem zerstörten Betrieb hinüber.
»Wer könnte so etwas tun?«
»Wer weiß schon, was die Leute denken? Noe ist gebürtiger Japaner, das genügt scheinbar.«
»Er ist einer von uns.« Chester verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust.
»Einer von uns< heißt weiß, angelsächsisch und protestantisch, mit ein paar eingestreuten Katholiken zur Verzierung.«
»Ah, so denke ich nicht.«
»Ich auch nicht, Chessy, aber viele denken so. Er ist eine Zielscheibe. Die haben uns bombardiert, also verbrennen wir einen von denen. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen - so ähnlich. Das Lagerhaus gehört den Rifes. Noe hat es nur gemietet.«
Stumm beobachtete er die Gestalten mit ihren großen Feuerwehrhelmen. »Wie geht es weiter?«
»Das weiß nur Gott - falls es ihn kümmert.« Sie streichelte den weichen Kopf der Katze. »Wenigstens ist Matilda in Sicherheit.«
»Und Sie auch.« Er seufzte. »Ich war auf dem Weg nach Hause und habe den Feuerschein gesehen.« Er sah auf die Uhr. »Juts fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe.«
»Sie wird Verständnis haben.« Fannie seufzte schwer. Ein kalter Atemhauch schlug sich in der schneidenden Luft auf der Windschutzscheibe nieder. »Ich sollte jetzt wohl lieber Orrie informieren. Sie ist sowieso schon völlig außer sich, weil Noe sich zum Militär meldet. Das hier wird ihr den Rest geben.«
»Er spricht Japanisch. Das macht ihn unentbehrlich.«
»Ich flitze mal zum P. T. - was meinen Sie?« Sie hatte Juts' Bezeichnung für Louises Haus aufgeschnappt. »Orrie wird Louise brauchen.«
»Gute Idee«, stimmte Chester zu.
»Wissen Sie, ich hatte ein komisches Gefühl, daß so etwas passieren würde. Seit Fairy Thatcher siebenunddreißig in Deutschland verschollen ist, ist mir die Welt suspekt. Fairy ist natürlich tot. Ich weiß ganz genau, daß sie tot ist. So eine reiche Frau, und fliegt auf diesen sozialistischen Quatsch - armes Ding. Sie hatte noch nie einen Funken Verstand besessen. Wahrscheinlich hat die SS sie erschossen, oder jemand in einer blitzsauberen Uniform hat sie kaltgestellt. Ich weiß es nicht, Chester. Ich bin eine alte Frau. Mir scheint, die Welt ist aus den Fugen geraten.«
Ritterlich widersprach er: »Fannie Jump, kein Mensch würde Sie alt nennen - und die Welt ist aus den Fugen geraten. Ich glaube, Fairy hat das früher erkannt als wir.«
»Sie ist dafür gestorben. Wenn die Deutschen nicht auf ihresgleichen hören wollten, dann hörten sie auch nicht auf eine Amerikanerin, die ihnen sagte, daß die Nazis Unheil bringen.« Tränen traten ihr in die Augen. »Celeste und ich sitzen manchmal zusammen und unterhalten uns. Die Menschen haben sich verändert. Dieses Land hat sich verändert. Nicht nur, daß wir alt und verschroben werden, man kann die Gewalt riechen.« Sie hielt inne, dann brummte sie: »Da kommt Popeye, der verdammte Schnüffler. Können Sie sich eine Frau vorstellen, die den heiraten würde? Sie wird.«
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