»Er hat mich beleidigt, mehr brauchst du nicht zu wissen. Dein Platz ist bei mir.«
»Was hat er getan?«
»Das geht dich nichts an!«, brauste sie auf.
»Was immer er getan hat, warum bist du wütend auf Cora, Juts und Louise?«, erwiderte er folgerichtig - ein Fehler.
»Weil mir danach ist! Cora Zepp hat sich Hansford an den Hals geworfen. Es war widerwärtig.«
»Das muß eine ganze Weile her sein.« Er drehte seine Hutkrempe zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Für mich nicht.«
»Mutter« - er versuchte, sie zu besänftigen - »ich hoffe, daß mein Gedächtnis so scharf ist wie deins, wenn ich in dein Alter komme.« »Die Erinnerung ist alles. Sie ist dein ganzes Leben.«
»Das mag wohl sein, aber ist dir nie aufgefallen, wie jemand - sagen wir Dad - sich an etwas erinnert, was du ganz anders im Gedächtnis hast?«
Sie starrte ihn mit ihren stahlgrauen Augen an. »Dein Vater würde seinen Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf seinem Hals säße.«
Da sie ihn absichtlich falsch verstanden hatte, zuckte ein unfreiwilliges Lächeln um Chesters Mund. Er setzte seinen Hut wieder auf. »Es tut mir Leid, wenn ich dich aufgeregt habe. Ich fand, du solltest Bescheid wissen, bevor es dir jemand auf der Straße erzählt.«
»Wo gehst du hin?« Ein Anflug von Unruhe zuckte über ihr Gesicht.
»Zurück ins Geschäft.« Er öffnete die Hintertür. »Bis dann, Mutter.«
»Chester.«
»Was?«
»Wie sah er aus?«
»Ah - alt. Das Atmen fällt ihm schwer.«
»Cora war bestimmt erschüttert.«
»Das kann man wohl sagen. Er hat geweint, als er sie sah.«
»Ich hoffe, er erstickt.«
»Bis demnächst.« Chessy schloß die Tür hinter sich.
Josephine starrte auf die hübsche Tischdecke auf dem Küchentisch, deren abgerundete Ecken mit Seidengarn bestickt waren. Eine blaue Salz-und-Pfeffer-Garnitur und eine Zuckerschale zierten die Mitte.
Sie riß an der Ecke der Tischdecke, Streuer und Schale krachten auf den Boden.
In den darauf folgenden Monaten nannten weder Julia noch Louise Hansford Hunsenmeir >Vater<, doch sie bemühten sich, höflich zu sein. Nach und nach entdeckten sie liebenswerte Züge an ihm. Zum Beispiel sagte er ihnen nicht, was sie zu tun hatten.
Bislang hatte er keine Erklärung für seine vierunddreißigjährige Abwesenheit geliefert. Er sprach wenig, weil ihm das Atmen schwer fiel, wenngleich er sich dank Coras Fürsorge etwas erholt hatte.
Das Curl 'n' Twirl war der Treffpunkt schlechthin. Zwar verstanden Juts und Louise nicht das Geringste vom Haare schneiden, aber dafür hatten sie ja Toots. Louise und Juts konnten Fingernägel lackieren, unaufhörlich klatschen und die Leute zum Lachen bringen. Sie zettelten sogar eine Wasserschlacht an, während sie Lillian Yost die Haare wuschen, und statt in Wut zu geraten, füllte Lillian, sobald ihre Frisur fertig war, einen Becher voll Wasser und kippte ihn Julia über den Kopf.
An einer Wand hing eine große Tafel mit vielen bunten Kreiden in der Holzablage. Paul hatte kunstvoll >Klatschzentrale< an den oberen Rand gemalt. Jeder konnte hereinschauen und hinschreiben, was sich ereignet hatte - etwa daß Wheezie einen Schluck aus dem Gartenschlauch genommen und einen Tausendfüßler in den Mund gekriegt hatte. Geburten, Jubiläen, Geburtstage und Veranstaltungstermine wurden ebenso an die Tafel gekritzelt wie komische Sprüche.
Eines Tages kam Celeste herein und schrieb: »Falls du eine hilfreiche Hand brauchst, sie befindet sich unten an deinem Arm.«
In einem Anfall von Frömmigkeit schrieb Louise zuweilen eine Passage aus der Bibel hin.
Die Jugend fand sich ein, weil Mary und Maizie ihnen gesagt hatten, bei ihrer Mutter bekämen sie Coca-Cola umsonst. Dem Curl 'n' Twirl brachten diese unentgeltlichen Colas, die Louise und Juts je fünf Cent kosteten, neue Kunden. Sogar die Tiere versammelten sich hier, dank der Kaspereien von Yoyo und Buster.
Die älteren Damen blieben Junior McGrail treu, die sich an Samstagen mit einem Tag der Kultur rächte. Was bedeutete, daß ihr stark behaarter Sohn, der einem Affen glich, sich ins Schaufenster hockte und Harfe spielte. Das lag in der Familie, denn Juniors Bruder spielte ebenfalls Harfe.
Celeste fuhr oft nach Washington, und wenn sie zurückkam, führte sie ihr erster Weg ins Curl 'n' Twirl. Sie brachte Toots stets Neuigkeiten von Rillma mit. Rillma und Celestes Neffe Francis saßen abgeschirmt in einem kleinen Zimmer im Außenministerium. Celeste glaubte, daß ihr Neffe etwas mit dem militärischen Geheimdienst zu tun hatte, doch in welcher Form, wußte sie nicht. Er sprach kaum darüber, und sie bohrte nicht nach. Sie wußte, daß Armee und Marine aufrüsteten - man mußte nur an einem Militärstandort vorbeifahren, um das zu sehen -, aber die Zeitungen schrieben sehr wenig darüber, was ihrer Meinung nach ein verhängnisvolles Zeichen war.
Cora mutmaßte, daß Celeste in Washington eine Affäre hatte, doch mit wem, wußte sie nicht. Celeste sagte nie ein Wort darüber.
Ramelle kam im Herbst zurück, doch Celeste setzte ihre Ausflüge nach Washington fort. Manchmal nahm sie Ramelle mit. Cora dachte sich, daß sie früher oder später dahinter kommen würde, was da vorging.
Der Sommer war bemerkenswert wegen der Schwadronen von Schmetterlingen und weil die Orioles am Tabellenende landeten. Joe DiMaggio erzielte in sechsundfünfzig Spielen in Folge einen Treffer, was alle Welt ebenso begeisterte wie Whirlaways Dreifachsieg mit Eddie Arcaro im Sattel. Der Herbst war bemerkenswert wegen der großen Anzahl von Ringfasanen. Die Maisfelder waren voll von ihnen.
Als das Jahr 1941 auf den Winter zuging, zahlten die Schwestern Hunsenmeir Mr. Cadwalder einen Schwung ihrer Schulden zurück. Extra Billy fuhr fort, ein wenig dezenter - zumindest in Gegenwart von Louise und Pearlie -, Mary den Hof zu machen. Louise wirkte etwas besänftigt. Nicht, daß sie nicht noch immer auf das Erscheinen eines geeigneten jungen Mannes hoffte, eine Verbindung, die mit ihren hochfliegenden Zukunftserwartungen in Einklang stand. Sie betete weiterhin zur heiligen Jungfrau und setzte ihre gelegentlichen Besuche bei Diddy Van Düsen fort, von der berichtet wurde, daß sie anfange, sich für die heilige Jungfrau zu halten.
Juts war morgens die Erste, die die Ladentür aufschloß. Sie brühte Zichorienkaffee, um die Kundinnen zu verwöhnen, häufte Plätzchen, Kuchen und Doughnuts auf Teller und schrieb mit roter Kreide das Datum - 26. November 1941 - auf die Klatschzentralentafel. Da es Mittwoch war, würde es sehr geschäftig zugehen. Morgen war Thanksgiving, und die Damen wollten so schön aussehen, wie sie nur konnten.
Marys Augen glichen runden, roten Eidechsenaugen, die es der Eidechse ermöglichten, in zwei Richtungen zugleich zu sehen. Sie warf sich auf den mittleren Frisierstuhl im Curl 'n' Twirl und heulte noch mehr.
Ein wilder Truthahn, ein Beweis der Fertigkeit des Präparators, teilte sich das Schaufenster mit blank polierten Garten- und Riesenkürbissen. Die Leute winkten im Vorübergehen. Das Schild im Fenster zeigte Geschlossen an; denn es war halb sieben. An diesem Tag war es so lebhaft zugegangen, daß nicht mal Zeit für eine Kaffeepause geblieben war. Maizie war mit ihrem Vater einkaufen, und das war gut so, da Louise, die mit ihrer Geduld am Ende war, sie zusammenfalten würde, wenn sie während dieses letzten Wortwechsels den Mund aufmachte. Es versprach, ein freudloses Thanksgiving zu werden.
»Ich liebe ihn, Mutter!« Mary fing aufs Neue zu schluchzen an.
Juts schrubbte die Waschbecken, Louise kehrte den Fußboden. Mary, durch ihr Leid wie gelähmt, tat nichts als leiden, worin sie unübertrefflich war.
Читать дальше