»Wollt ihr zwei euch nicht setzen? Ihr macht mich ganz schwindlig.« Mit einem ernsten Ausdruck in seinem kantigen Gesicht deutete Pearlie auf das Sofa.
»Ich kann nicht. Beim Rumlaufen kann ich besser denken.«
»Dann mußt du aber noch viel rumlaufen«, sagte Julia halb im Scherz.
»Jetzt ist nicht die Zeit für Späße. Ein Schwindler schleicht sich bei uns ein. Er wird Momma die Haare vom Kopf fressen.«
Chessy unterbrach sie: »Er wird nicht viel essen, Wheezie. Er pfeift auf dem letzten Loch.«
»Und die Arztrechnungen?« Louise, den Sinn stets auf Geld gerichtet, hatte Visionen von dicken Stapeln weißen Papiers, die an einem langen Nagel aufgespießt waren. Auf jedem Blatt war ein rotes Rechteck mit dem Wort >Rechnung< in der Mitte. Es war keine Vision, es war ein Albtraum im Wachzustand.
»Und dann die Kosten für das Begräbnis und den Sarg - man muß reich sein, um zu sterben.« Louise schritt schneller auf und ab.
»Man könnte ihn an einen Galgen hängen.« Chester verzog keine Miene. »Ich könnte innerhalb eines Tages einen bauen.«
»Ja, du könntest den Galgen vor Junior McGrails Salon aufstellen. Das würde die Kundschaft abschrecken!«
»Andererseits, wenn man die Hunde bedenkt.«, wandte Chessy brottrocken ein.
»Wollt ihr zwei wohl den Mund halten.« Louise ließ sich aufs Sofa plumpsen. »Dies ist eine ernste Angelegenheit. Es ist schrecklich.«
»Momma hat so ein weiches Herz, sie wird ihn pflegen, egal, wer er ist. Er kann nicht unser Vater sein. Hansford Hunsenmeir war ein stattlicher Mann mit einem schwarzen Schnauzbart.«
»Nur daß der nicht richtig schwarz war. Er sah auf den Fotografien schwarz aus.«
»Woher weißt du das?«
»Ich erinnere mich an ihn - entfernt.« Louise seufzte. »Hauptsächlich erinnere ich mich daran, wie Momma geweint hat.«
»Vierunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Ich bezweifle, daß irgend jemand so aussieht wie auf Fotos von damals«, bemerkte Pearlie.
»Wieso? Celeste Chalfonte sieht immer noch so aus«, entgegnete Louise.
»Sie ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, sagte Paul.
»Ihr Haar ist silbergrau geworden - das ist aber auch alles.« Chester fuhr sich mit den Händen durch seine blonden Locken; sein Haaransatz war ein wenig zurückgegangen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Also, wer immer er ist, er hat mich schon beleidigt, bevor er überhaupt am Tisch saß. Er hat gesagt, >du mußt Louise sein<. Ich habe >ja< gesagt, und dann hat er mit diesem jämmerlichen Möchtegernschnurrbart gewackelt und gesagt, >du mußt jetzt vierzig sein.<���«
»Ach Wheezer, um Himmels willen, du bist vierzig.«
»Bin ich nicht. Das bin ich ganz entschieden nicht, und ich weiß nicht, warum du auf so einer Fehlinformation beharrst.«
»Wenn ich sechsunddreißig bin, bist du vierzig.« Juts blieb standhaft.
»Ich bin nicht vierzig! Und was dich angeht, der hat dich angeguckt und wollte wissen, wo deine Kinder sind. Ich mag ja näher an den vierzig dran sein als du, aber ich bin wenigstens eine Mutter!«
»Louise, beruhige dich.«
Blitzschnell drehte sie sich zu ihrem Mann um. »Beruhigen? Was würdest du denn tun, wenn so ein gräßlicher Kerl durch die Haustür gefegt käme und behauptete, er wäre dein Vater?«
Pearlie verschränkte die Hände. »Ich würde darauf vertrauen, daß meine Mutter ihren Ehemann kennt.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, kreischte Louise.
»Auf deiner, Schatz, aber wenn Cora Hunsenmeir sagt, der Mann ist Hansford, dann ist er es.«
»Wie will sie das denn wissen? Sie hat ihn schließlich vierunddreißig Jahre nicht gesehen.« Louise, deren Wut verebbte, weil sie wußte, daß Pearlie die Wahrheit sprach, sank auf ihrem Sitz zusammen.
»Er hat Recht.« Julia ließ sich neben ihre Schwester fallen, die sich abwandte, noch immer verstimmt, weil sie für vierzig gehalten wurde.
»Juts, ich finde, du läßt dich zu leicht beeinflussen.«
»Ha«, lachte Chessy.
»Leicht beeinflußbar oder nicht, was tun wir jetzt?«
Chesters volle Baritonstimme überraschte sie. »Wir werden tun, was Cora will.«
Tränen schimmerten in Julias Augen. »Aber Chessy, ich will nicht, daß dieser widerliche Kerl mein Vater ist.«
»Ich auch nicht.« Louise legte ihren Arm um Julias Schultern; ihre Kabbelei war augenblicklich vergessen.
»Aber Mädels, wir müssen das Beste draus machen. Chess hat Recht. Es ist Sache eurer Mutter.«
»Momma kann keinem Streuner widerstehen. Sie hat vier Katzen.«
»Fünf«, berichtigte Julia.
»Fünf? Seit wann hat sie fünf?«
»Sie hat ein ausgesetztes Kätzchen mit einem gebrochenen Bein gefunden.«
»Also, ihr wißt, was ich sagen will. Wir müssen Mutter vor sich selbst schützen.« Louises Worte klangen sehr reif.
»Schön, dann praktiziere dein Christentum«, riet Pearlie ihr.
Vom oberen Ende der dunklen Treppe meldete sich eine Stimme. »Geben ist seliger denn nehmen.«
Louise schoß vom Sofa auf, blieb am Fuß der Treppe stehen und knipste das Licht an. Oben war niemand. »Mary, ich kenne deine Stimme.«
»Sie schläft«, rief Maizie.
»Sei still«, flüsterte Mary.
»Mary, ich bin nicht von gestern.«
»Das wissen wir«, rief Juts aus dem Wohnzimmer.
Das brachte Chessy und Pearlie zum Lachen. Dann fingen die Mädchen in Marys Zimmer, wo sie sich versteckt hatten, zu kichern an.
Louises Schmollen löste sich in Glucksen auf. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte schallend.
»Mom«, rief Maizie, »ich hab Hunger.«
»Es ist zehn Uhr abends.«
»He, laßt uns Eis mit heißer Karamellsoße essen. Ich habe jede Menge Erdnüsse zu Hause«, schlug Juts vor.
»Ich habe auch Erdnüsse«, sagte Louise.
»Mom - bitte.« Maizies Flehen klang so süß klagend.
»Na gut.«
Julia machte die Soße heiß, Paul teilte das Eis aus, und Mary deckte mit Maizies Hilfe den Tisch. Chester öffnete eine Büchse Nußmischung.
»Man hat mich betrogen.«
Paul drehte sich zu Chessy um. »Hm?«
»In meiner Nußmischung waren nur Erdnüsse.«
»Weil du mit einer verrückten Nuß zusammenlebst«, verkündete Louise. »Sie pickt sich alles raus bis auf die Erdnüsse. Ich verstecke meine Nußmischungen, damit sie sie nicht findet.«
Chester wandte sich scheinbar arglos an Julia Ellen.
»Schatz, tust du das wirklich?« Er rückte dicht hinter sie und koste ihren Hals. »Ich dachte immer, ich könnte auf dich zählen.«
»Das Einzige, worauf du dieser Tage zählen kannst, sind deine Finger.« Juts steckte ihm eine dicke Paranuß in den Mund.
»Ich dachte, er wäre tot.« Sie hob die Stimme. »Er sollte tot sein.«
Erschrocken über die Heftigkeit seiner Mutter, hängte Chester seinen Hut nicht an den Hutständer. Er wollte nur kurz bleiben. Er konnte es nicht ausstehen, wenn seine Mutter murrte. Er hatte vor Jahren erkannt, daß er sie liebte, aber nicht leiden konnte.
Josephine fuhr fort: »Als du diese Göre geheiratet hast, habe ich dir gesagt, daß sie niemals einen Fuß in dieses Haus setzen wird. Keine Brut von Hansford Hunsenmeir wird je durch meine Tür treten.« Sie holte Atem. »Und jetzt ist er wieder da. Man hätte meinen sollen, daß er schlau genug sei, zu bleiben, wo er ist.«
»Vielleicht ist er nach Hause gekommen, um zu sterben.«
»Und zwar bald, hoffe ich.«
Chester hatte seine Mutter mit der Neuigkeit überrascht. Er wußte, daß sie die Hunsenmeirs nicht ausstehen konnte, aber jetzt zeigte sie mehr Emotionen, als er seit der Verkündung seiner Verlobung bei ihr erlebt hatte.
»Mutter, da ich nicht weiß, warum du ihn haßt, kann ich dir nicht folgen.«
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