Er hatte nicht nur keine Lust auf sie, er konnte sich auch nicht vorstellen, eine solche zu entwickeln. Es fehlte ihm die erforderliche Lust auf Lust auf sie. Denn zur Lust auf Lust gehörten vermutlich Gefühle. Die waren nicht vorhanden.
Ein Alternativprogramm zum Lustprogramm stand aber nicht zur Diskussion. Natalies telefonische Vorworte des Treffens waren »Ich will dich wieder« gewesen. Dazu noch ein hübsches Wortspiel über den Ort des Geschehens: »Diesmal komm ich bei dir.« Max hätte vermutlich »Ich mag es, wenn du so direkt bist, Baby« erwidern müssen. Dazu hätte er sich vorher noch eine Schachtel Sägespäne in die Kehle schütten müssen. Aber er blieb bei seiner natürlichen Stimme. Und er schaffte gerade noch: »Dann komm!«
Da war sie also. »Ich kann nicht lange bleiben, darum bin ich früher da«, erklärte sie in zur Perfektion gebrachter Jugendlicher Abgeklärtheit, kniff die Augen zusammen und brachte ihre unruhigen zarten Hände am Kragen ihrer gepolsterten Lederjacke in Stellung, scheinbar um diese ruckartig zu öffnen. Wahrscheinlich hatte sie darunter nichts an. Das waren zwar Männerphantasien, aber bei Natalie musste man mit solchen Dingen rechnen.
Edgar, der Anglistikprofessor, habe am späten Abend überraschend Zeit, erklärte sie: deshalb ihre Eile. »Ich werde aber nicht mit ihm schlafen, der wird Augen machen«, verriet sie Max und kniff die Augen in besonders kurzen Intervallen zusammen. Um ihre Edgar-Verweigerung durchzustehen und dem Professor nicht gar so ausgehungert gegenüberzutreten, nahm sie den Abstecher bei Max. Das hatte zwar relativ wenig mit einer Romanze zu tun. Aber damit beruhigte er sein Gewissen. Sein Motiv, sie kommen zu lassen, war auch nicht edler.
Er wollte üben. Er wollte es noch einmal probieren. Er wollte schauen, ob es ihm ein zweites Mal gelingen würde, heil über die Runden zu kommen. Er hatte eine gute Unterlage (Stachelbeerkuchen und Kaffee), er war mental in guter Verfassung, er konnte eine volle Sekunde an die fette Sissi denken, ohne den geringsten Brechreiz zu verspüren. Es herrschten also günstige Laborbedingungen.
Seit dem gelungenen Abenteuer mit Natalie vor zwei Tagen war Max euphorisch. Sein Sexualleben war im Begriff, sich zu verändern, das heißt: Es war im Begriff zu beginnen. Er wollte nicht unbescheiden sein: Ob er selbst dabei etwas empfand, war ihm egal. Aber allein die Vorstellung faszinierte ihn, dass er mit einer Frau ganz normalen Sex mit ganz normalen Zungenküssen haben konnte, dass er in der Lage war, sie auf konventionelle Weise zu befriedigen und ihre Lust zu stillen. Jetzt war er 34. Gar nicht so schlimm. Da gab es noch einige Jahre bis zum Ruhestand. Da war vielleicht sogar noch eine dauerhafte Lebensgemeinschaft möglich, eine Art Ehe, oder: warum nicht gleich eine Ehe, mit einem Kind oder zwei - und ohne Hund natürlich.
»Wo?«, fragte Natalie. Für »... tun wir es« war ihr die Zeit zu schade. Als Antwort sprang ihr die orangerote Ledercouch in die halb zugekniffenen Augen. Sekunden später saßen sie dort übereinander. Unter ihrer Steppjacke befand sich übrigens doch noch ein Kleidungsstück - ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt. Dem Anglistikprofessor konnte sie so etwas nicht vorsetzen, aber für Max reichte es. Sie nahm hastig die nächstbeste seiner Hände und schob sie unter ihr Shirt. Dazu machte sie ein konstruiertes Geräusch mit vielen »A«s, wie eine Puppe, die auf Berührung reagierte. Die Haut griff sich angenehm warm an, fühlte Max. Da war nur das Problem: Er hatte keine Lust, je schneller Natalie es vorantrieb, umso eindeutiger - absolut keine Lust.
Sie öffnete sein Hemd. Er dachte, es wäre langsam an der Zeit, die Sache abzubrechen. Aber Natalie war zu beschäftigt. Er konnte sie nicht stören. Außerdem hätte sie ihn ohnehin nicht verstanden. Sie war bereits in einem ihm unbekannten Reich der Sinne und hielt dort erotische Monologe aus der Sekundär- bis Tertiär- bis Porno-Literatur: »Weißt du, was ich gleich mit dir machen werde?« (Sie erwartete keine Antwort.) »Ich werde xxxxx nehmen und xxxx stecken.« - Und einiges mehr.
Dabei griff sie ihm zunächst auf, dann zwischen und schließlich unter die beiden Hosen. Jetzt musste auch sie langsam merken: Er hatte absolut keine Lust. Aber das irritierte sie nicht. Er wurde auf den Rücken gelegt und durfte die Augen schließen. Sie begann weiter unten mit dem Aufbautraining.
Max kam sich lächerlich und in dieser Lächerlichkeit auch noch gefangen vor. Er resignierte, überließ seine Schale der Erregerin und blendete seinen Geist aus dem Geschehen aus. Er dachte an Katrin. Er war aufgeregt, wenn er an sie dachte. Er war seit einigen Tagen aufgeregt. An diesem Nachmittag war endgültig etwas mit ihm passiert. Er wusste genau, was es war. Er wagte nur noch nicht, es sich einzugestehen. Und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte.
Er wollte gern einmal ihre Wange berühren. Das hätte er natürlich niemals gewagt: Katrins Wangen waren Heiligtümer, die berührte man nicht einfach so. Ihr gesamtes Gesicht war unantastbar. Ihre Hände waren zerbrechliche Kunsthandwerke. Ihr Körper? War es erlaubt, an ihren Körper zu denken? War es erlaubt, sich ihn nackt vorzustellen? War es erlaubt, ihr im Geiste über die Hüften zu streichen? Nur über die Hüften, großes Ehrenwort!
Natalie konnte zufrieden sein. Sie hatte ... sparen wir uns Details. Er war in ihr. Sie stöhnte und warf mit Wörtern wie »eng« und »hart« und »lang« und »groß« und »feucht« herum. So, aber jetzt wurde es ernst. Jetzt war ihr Kopf über seinem und sie bedeckte sein Gesicht mit etwa einem Liter Speichelflüssigkeit, ehe er ihre aufgewärmte Zunge in seinem Mund aus- und eingehen fühlte.
Max spannte alle verfügbaren Bein- und Armmuskeln an, presste die Fäuste zusammen und zwang sich zur Vorstellung, Katrin wäre es, die ihn gerade küsste. Das funktionierte nicht. Es gab in seiner Biografie nur eine, die so einvernehmend gierig zu saugen verstand wie Natalie - die fette Sissi. Max würgte die erste heftige Übelkeitsattacke hinunter und riss seinen Kopf aus Natalies Verankerung.
»Hast du was?«, fragte sie in Form von Stöhngeräuschen. »Können wir nicht Platz tauschen?«, fragte Max kränklich. »Typisch Mann. Immer wollen sie oben sein und den Rhythmus angeben«, erwiderte Natalie im Sinne von »Nein, kommt nicht in Frage«, zog ihre Beinschere fester, krallte ihre Finger in seinen Hals und versenkte ihre Zunge minutenlang in seiner Mundhöhle.
Während sein Magen wie eine hochtourige Waschmaschine kaffeedurchtränkte Stachelbeerkuchenstücke schleuderte, versuchte Max noch einmal bei Katrin Halt zu finden. Warum sagte er ihr nicht einfach, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte? Was konnte ihm passieren? Würde sie Max nicht jeden Wunsch erfüllen, wenn sie Kurt dafür haben konnte? - Da war er wieder, der Traum. Sie saß vor ihm in ihrem gelben Raumanzug. Er sah nur ihre mandelförmigen Augen. Sie hatte doch mandelförmige Augen, oder nicht? »Du legst deine Hände auf meinen Nacken und fährst mit allen zehn Fingernägeln ganz langsam meinen Rücken herunter«, dachte er sich zu ihr sagen. Wie sie ihn ansah! Wie sie ihre Finger bewegte. Diese Finger auf seinem Rücken! Ein Zucken ging durch seinen Körper. Er versuchte, den Mund zu schließen. Doch da war Natalies Zunge. Da war die fette Sissi. Er hob den Kopf. Er war knapp davor, sich zu übergeben. Natalie drückte den Kopf auf den Polster zurück und ließ von seinem Mund ab. Ihre Bewegungen wurden schneller, ihre Stöhngeräusche kehliger.
Bei Max mischten sich Schmerz, Angst, Ohnmacht und unbändige Lust auf Katrin. »Würdest du das für mich tun?«, dachte er sich sie fragen. »Bitte tu es schnell, ich halte es nicht mehr lange aus«, dachte er sich sie anflehen. »Danke für Kuchen und Kaffee!«, sagte sie und warf ihm einen grausam höflichen Blick zu. Er nahm sie und gab ihr Küsse auf beide Wangen. Sie riss sich los und weinte bitter und heulte wie ein Wolf und jammerte wie ein Kind. Nein, das war kein Jammern. Das war ein Geräusch wie von einem wild gewordenen Pferd. Das war ein schreckliches Wiehern.
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