An diesem Abend saßen sie noch lange an einem seiner beiden offenen Kamine und starrten gemeinsam ins Feuer. Dabei erklärte er ihr Teile der Welt. Sie hörte interessiert zu und redete nur in unbedingten Notfällen dagegen, zum Beispiel beim Thema »Arm und reich«. Dazu wusste er, dass in dieser Welt kein fleißiger Mensch arm sein musste. Katrin wollte die harmonische Stimmung nicht gefährden, sie zählte nur fünf Gegenbeispiele auf und erwähnte einige afrikanische Länder. Man einigte sich darauf, dass kein fleißiger Sohn eines Millionärs arm sein musste.
Unterschiedlicher Ansicht waren sie auch, was den außerehelichen Beischlaf anlangte. Darum ging es am sechsten gemeinsamen Abend. Da machte ihr Aurelius einen Heiratsantrag. Sie lachte halbsüß (es war eine Mischung aus geschmeichelt und bedrängt) und fragte liebevoll: »Bist du verrückt?« Und fügte hinzu: »Wir haben ja noch nicht einmal miteinander geschlafen.« - Eben, darum freue er sich ja auch schon so sehr auf die Hochzeitsnacht, stellte sich sogleich heraus. »Ich kann es gar nicht erwarten«, gestand er ihr mit einem unbeabsichtigten Ausdruck von Schalk in den Augen.
»Ich heirate sicher nicht in den nächsten zwei Jahren«, sagte Katrin, so zärtlich der Inhalt der Worte es zuließ. Aurelius räusperte sich und griff an die Innenseite seines Sakkos, als wollte er einen Kalender zücken. »Ich glaube, wir sollten die Sache einmal überschlafen«, erwiderte er nobel brüskiert und zwang sich zu einem tapferen Lächeln. Als sie gerade ausreichend Luft geholt hatte, um ihn zu fragen, ob sie bei ihm nächtigen dürfe, fragte er: »Darf ich dich nach Hause bringen?« - »Ja, das wäre nett«, antwortete sie. Bei der Verabschiedung gab es überraschenderweise einen Kuss auf den Mund. Das heißt: Ein Kuss war es zwar nicht, aber die Richtung stimmte.
Katrin musste sich eingestehen, dass sie die Situation als aufregend empfand und dass sich Aurelius mit seiner »Hochzeitsnacht« interessanter gemacht hatte als durch seine angeborene Weltweisheit und den zugeerbten Komfort. Es reizte sie, ihn zu verführen. Nein: Es reizte sie, ihn zu reizen, sie zu verführen. Das war ihr Programm der Abende sechs bis zehn; nichts Anspruchsvolles, eher ein Unterhaltungsprogramm. Bei der Auswahl der dazu passenden Garderobe fiel ihr erst auf, wie viel Gewand sie nicht für sich selbst gekauft hatte.
Um es zu verkürzen: Aurelius wusste bald nicht mehr, wo er seine Blicke ruhen lassen und seine Finger verstecken konnte. Er war verwirrt. Er erzählte nur noch Halbweisheiten; er war von Katrins körperlichen Provokationen so betört, dass er seine Ausführungen mitten in Schlüsselsätzen beendete. Er legte die größten aller großformatigen Zeitungen zur Seite, um sie anzustarren. Er abonnierte ihre Hände für Streichelorgien. Er schickte ihr Kussmünder in Sekundenintervallen. Er himmelte sie an.
Er lud sie von nun an täglich ein, bei ihm zu übernachten. (Sie sagte täglich zu.) Wenn sie sich auszog, drehte er sich um. Es gab heftige Umarmungen im Bett. Er schnaufte zwar und seufzte und stöhnte, aber er berührte sie nie so, dass ihm dabei die Bremswirkung seiner Prinzipien versagte. Und sie blieb zu stolz, seine Bremsen händisch zu lösen. (Ein Griff wäre es gewesen, ein einziger.) So ließ sie ihn unter seiner auferlegten Askese leiden und genoss es, ihn dabei zu beobachten. Auch das war Erotik. Auch das war Sex. Auch das konnte Liebe sein oder werden, dachte sie.
Der elfte Abend mit Aurelius war der Heilige - und zugleich Katrins 29. Geburtstag. Er fiel insofern aus dem Rahmen, als sie ihn im Hause SchulmeisterHofmeister verbrachten, um nicht zu sagen »feierten«. Katrin hätte Aurelius nie mitgenommen, hätte er nicht darauf bestanden. Und sie hätte ihren Eltern nie einen Mann im Stadium des »Verehrens« zum »Stille-Nacht-Gesang« vor den Christbaum gestellt, hätten sie nicht förmlich darum gebettelt.
Gleich bei der Begrüßung war Katrin klar, wie sich der Abend entwickeln würde. Die Mutter fiel der Tochter weinend um den Hals und sagte: »Goldschatz, du weißt gar nicht, wie glücklich du uns machst.« Der Vater legte Aurelius den Arm um die Schulter und setzte einen vermutlich stundenlang vor dem Spiegel trainierten »Gratuliere-sie-gehört- jetzt-dir-sei-gut-zu-ihr«-Blick auf.
Anschließend wurde Aurelius durch die Räume der Altbauwohnung geführt, als stünde er unmittelbar vor der Übernahme derselben. Die Mutter startete eine erstaunlich lange Serie von Sätzen, die mit »Und da hat unsere Kleine immer« begannen. (Dann kam je nach Örtlichkeit: Barbie gespielt, Keksi genascht, Lulu gemacht und so weiter.)
Der Tisch war wahrscheinlich seit einer Woche für diesen Anlass geschmückt worden. Die Gedecke von Katrin und Aurelius waren etwa drei Millimeter voneinander getrennt. Aus den roten Servietten hatte Frau Schulmeister-Hofmeister Herzen geschnitten, die einander berührten.
Während des Essens erzählte die Mutter, wie man gute Weihnachtsgänse von schlechten Karpfen unterscheiden konnte, oder so ähnlich, und warum Katrin als Kind weder Gans noch Fisch gegessen hatte. (Weil sie sich von Schokobananen ernährt hatte.) Es waren Erzählungen, bei denen sich Zuhörer Gesichtsmuskelzerrungen einfingen, weil sie ein einmal aufgesetztes Lächeln nie mehr abbrechen durften, weil eine darauf gerichtete »lustige Geschichte« die nächste jagte. Mutter Schulmeister war eine begnadete Erzählerin solcher Geschichten.
»Und warum isst du heute nichts, Goldschatz?«, fragte sie in einer Pause. »Mir ist nicht besonders gut«, erwiderte Katrin. »Ja, die Liebe!«, sagte der Vater, zwinkerte der Mutter diabolisch zu, boxte Aurelius auf den Oberarm. Und alle drei lachten.
Sonst konzentrierte sich das Geschehen ganz auf den neuen Mann. Als er eine dritte Portion Rotkraut ablehnte, war die Mutter drauf und dran, sich aus dem Fenster zu stürzen. Nach dem Essen stimmte der Vater, bereits mit schwerem Zungenschlag vom Campari (bei dem er hängen geblieben war, weil niemand Wein trinken wollte), eine feierliche Tischrede an. Dazu verwendete er die Hand des jungen Mannes und schüttelte sie durchgehend: »Lieber Aurelius, wir freuen uns, dich hier und heute in unsere Familie aufnehmen zu dürfen. Nicht weil du eine Notariatskanzlei hast. Erfolg ist nicht alles. Geld ebenfalls nicht. Viel mehr zählt die Liebe. Glaub mir, du hast die beste Wahl getroffen, die du nur treffen konntest. Eine schönere und klügere Frau als meine Tochter wirst du nicht finden. Reden wir nicht lange herum, machen wir Nägel mit Köpfen ...« Die Mutter weinte. Aurelius tröstete sie. Katrin nützte die allgemeine Aufregung, um das Zimmer zu verlassen. Erst nach einer halben Stunde kam jemand nachsehen, wo sie geblieben war: auf der Toilette. Ihr war wirklich nicht gut.
Der Abend erfuhr noch eine Steigerung. Katrin kämpfte ihre Übelkeit mit Kognak nieder und verweigerte den Gesang von »O du Fröhliche«. Aurelius las zur Wiedergutmachung eine Weihnachtsgeschichte von Erich Kästner vor. Unter dem Christbaum lagen achtzehn Geschenke. Es lohnt sich nicht, ins Detail zu gehen: Katrin bekam von der Mutter die gesammelten Strickwerke des vergangenen Jahres und vom Vater einen himmelblauen Mikrowellenherd - mit dem Hinweis an Aurelius, er möge sich in Geduld üben; auch seine Frau Ernestine hätte das Kochen erst nach zehn Ehejahren erlernt. Die Männer lachten.
Die letzte Szene, die Katrin noch in Erinnerung hatte - sie hielt unbemerkt bei einer halben Flasche Kognak -, war die Übergabe eines goldenen Kolliers. Aurelius hängte es ihr plötzlich ansatzlos um den Hals. Es war so schwer, dass sie ihren Kopf kaum noch aufrecht halten konnte. Als die Mutter das Schmuckstück sah und die Anzahl der Karat erfuhr, traten ihr die Augen heraus. Katrin blickte apathisch in die Runde der Bestauner. »Das Kind ist sprachlos«, tröstete der Vater den Spender. »Jetzt gib ihm aber einen ganz, ganz dicken Kuss, Goldschatz!«, forderte Mutter die Beschenkte auf. Einen Tag später erfuhr Katrin, dass sie als Antwort »Nur über meine Leiche« gelallt haben soll, ehe sich ihr Kopf auf den Tisch gesenkt hatte.
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