Max stand in seiner kleinen Küche, die nach »einmal in der Woche Ham and Eggs aus der Hand eines verkaterten Junggesellen« aussah. Aber sie roch nach Großmutter. Es war der Geruch von Stachelbeerkuchen, nein, es war der Geruch von Kuchen. Stachelbeeren rochen nach nichts.
»Woher hast du sie?«, fragte Katrin. Sie war mit dem unreinen Klang ihrer Worte unzufrieden. Sie konnte eine so angenehm tiefe Stimme haben, wenn sie souverän war, wusste sie - und dann dieses Gekrächze! Merkte er ihre Aufgeregtheit? Er erzählte irgendetwas von einem Markthändler, den er kannte und der ihm den Tipp gegeben hatte, es doch dort und dort zu probieren; »dort und dort« gab es aber keine, also versuchte er es .
Sie konnte sich nicht auf den Inhalt seiner Worte konzentrieren. Er hatte Stachelbeeren vom Ende der Welt geholt. Das hatte er für sie getan. Nur für sie. Für sie allein. Ein Schmuckstück kaufte einer von vielen Männern für eine von vielen Frauen. Aber einen Stachelbeerkuchen machte nur der eine, der das Stichwort kannte, nur für die eine, die es ihm hingeworfen hatte. Intimer konnte ein Geschenk nicht sein.
Er sah sie beim Reden an, sie musste wegschauen. Sie kam sich entlarvt vor, er ihr verwandelt. Seine Blicke okkupierten sie. Er war wie neu, wie plötzlich in ihr Leben getreten. Er beschäftigte sie. Sie begann ihn zu studieren. Er gefiel ihr. Sie staunte über sich, wie ihr ein Mann, der ihr zum ersten Mal bewusst begegnete, gleich so sehr gefallen konnte.
Sie verbrachten den halben Tag auf der orangeroten Eckcouch. Sie saßen gut zwei Meter auseinander und rutschten keinen Millimeter näher zusammen, sie, weil sie es nie tun würde, er, weil er es nicht tat. Kurt schlief durchgehend, Katrin liebte ihn dafür. Er war ihr Lieblingshund. Der Kuchen schmeckte nach nichts. Immer wenn Max: »Möchtest du noch ein Stück?« fragte, sagte sie: »Ja, gern, aber nur ein kleines.« Dazu trank sie acht Tassen Kaffee und zwei Liter Mineralwasser. Sie musste ständig konsumieren (und dazwischen regelmäßig die Toilette besuchen). Sie brauchte die stete Berechtigung, dazubleiben. Sie wollte dableiben. Sie wollte nicht mehr fortgehen, und wenn sie bis an ihr Lebensende Stachelbeerkuchen und Kaffee und Wasser zu sich nehmen (und die Toilette besuchen) musste, um die Aufenthaltsberechtigung nicht zu verlieren.
Sie redeten über alles und nichts. Beides war spannend. Max war ein erfreulich schlechter Unterhalter, bemerkte Katrin. (Gute Unterhalter ließen einen nie zu Wort kommen, nach ein paar Stunden war ihr Programm zu Ende. Dann drückten sie auf die Wiederholungstaste und ließen ihre besten Geschichten noch einmal Revue passieren. Manchmal rangen sie sich für die jeweiligen Publikumsgäste noch eine zweite Zugabe ab. Danach war endgültig Sendepause. Dann musste rasch etwas Nonverbales passieren. Oder sie mussten die Zuhörer wechseln.)
Max war anders. Wenn er länger als zehn Sekunden von sich erzählte, begann sein Redefluss zu stocken, dann suchte er nach einem passenden Übergang und erteilte Katrin das Wort. Ihr blieb es erspart zu überlegen, was sie ihm sagen konnte. Er fragte gezielt nach allem, was ihn interessierte. Sie wunderte sich, wie wenig Geheimnisse sie vor ihm hatte und wie leicht es ihr fiel, persönliche und familiäre Dinge preiszugeben.
Irgendwann musste es kommen: »Und dein Freund?«, fragte Max. - Die Frage war fairerweise sehr allgemein gestellt. Katrin probierte: »Welchen meinst du? Ich habe mehrere sehr enge Freunde.« - »Dein fester Freund, der keinen Birnenkuchen mag.« Dies war unfairerweise sehr eindeutig formuliert. »Mit dem ist es schon vorbei«, sagte Katrin. Das war keine schlimme Lüge, oder? »Zahlt sich nicht aus, über ihn Worte zu verlieren«, fügte sie an. Jetzt war sie stolz auf sich, so rasch zur vollen Wahrheit gelangt zu sein.
»Und du?«, fragte sie, um ihren »Ex-Freund« endgültig zu tilgen. »Bei mir ist die Sache komplizierter«, erwiderte Max niedergeschlagen, und er begann, mit den Daumenkuppen die der Mittelfinger zu reiben, als würde er dazwischen etwas zerbröseln lassen. »Aber das erzähle ich dir ein anderes Mal«, sagte er und schaute demonstrativ auf die Uhr. Es musste etwa fünf Uhr sein. Draußen war es schon finster. Katrin kroch ein flaues Gefühl in den Magen. »Hast du noch etwas vor?«, fragte sie professionell freundlich, als wäre es ihr gleichgültig. »Ja, am Abend kommt eine Freundin zu Besuch«, sagte Max. Katrin vermeinte die Spitzen Dutzender Stachelbeeren an ihren Magenwänden zu spüren.
»Ist sie die komplizierte Sache?«, fragte sie. »Natalie? Nein. Sie ist die unkomplizierte Ausnahme von der komplizierten Sache«, erwiderte Max und lächelte wie jemand, der wusste, dass für niemanden lustig sein konnte, worüber er lächelte und wie er lächelte. »Was habt ihr für ein Verhältnis?«, fragte Katrin. (Was war in sie gefahren, solche Dinge zu fragen? Was war das für ein Ton?) »Ein sexuelles«, erwiderte Max leidenschaftslos und schaute ihr so tief in die Augen, dass er ihren Sekunden-Verfall bemerken musste. - Das war keine gute Antwort, nein, das war wirklich keine gute Antwort, dachte Katrin. »Aber ganz anders, als du denkst«, ergänzte Max hastig. Zu spät. Katrin dachte nicht mehr.
Sie spürte einen Befehl in ihren Beinen, die Wohnung auf die schnellstmögliche unverdächtige Weise zu verlassen. »So spät ist es schon?«, rief sie geschockt im Aufspringen und tastete sich mit Gesprächsfetzen bis zum Ausgang. »Willst du schon gehen?«, fragte Max. Sie sah ihn nicht mehr an. Seine Stimme klang ängstlich, aber sie hatte jetzt nicht die Muße, darüber nachzudenken. Sie befürchtete einen Gefühlsausbruch. Sie wusste nicht einmal, was für ein Gefühl es war, aber sie spürte die Bereitschaft, es eskalieren zu lassen. Bei der Tür umarmte er sie und gab ihr zwei kurze trockene Küsse auf die Wangen. Sie taten ihr weh. »Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er. »Ich melde mich«, erwiderte sie mit eiskalter Freundlichkeit. »Danke für Kuchen und Kaffee«, setzte sie mit grausamer Höflichkeit nach. »Bitte sehen wir uns bald wieder, ja?«, rief ihr Max nach. Sie reagierte nicht. Sie ließ die Steintreppen unter ihren Schuhabsätzen in abnehmender Lautstärke poltern. Es sollte nach »Das war es dann wohl« klingen.
Draußen schneite es noch immer dicht. Katrin vermummte mit dem Schal ihr Gesicht und begann durch den Esterhazypark zu laufen. Er hatte also ein unkompliziertes sexuelles Verhältnis. Gratulation! An ihren Beinen klebten schwere Klötze. Sie musste sie abschütteln. Sie musste schneller laufen. Sie musste sich hinter sich lassen. Sie musste von sich Abstand gewinnen. Sie spürte ein Stechen in ihrer Brust. Stachelbeeren, überall Stachelbeeren in ihr. Der Schal rutschte ihr unters Gesicht. Die Luft war grausam kalt. Keine Aussicht auf Wärme. Die orangerote Eckcouch war wohl schon wieder besetzt. Gratulation, Katrin, gut gemacht, gut erwischt!
Die Flocken peitschten und zerplatzten in ihrem Gesicht. Stachelbeeren, schwere, spitze, überreife Stachelbeeren. Aha, ein unkompliziertes sexuelles Verhältnis, aber ganz anders, als sie dachte. Sie dachte nicht, ihre Augen waren nass von außen und aufgeweicht von innen. Sie brannten. Stachelbeeren, Körbe von wässrigen Stachelbeeren. Sie rieb sie sich mit den Fäusten aus dem Gesicht und lief weiter, noch schneller, noch schneller davon. Eine Natalie also. Eine unkomplizierte Ausnahme. Scheiße. Das Keuchen übertönte ihre Weinkrämpfe. Sie hasste Schnee. Sie hasste den Winter. Sie hasste Weihnachten. Sie riss die Augen weit auseinander und fühlte sich alt. Sehr alt. Ihr war, als hätte sie alles versäumt, was sie jung gehalten hätte. Und ihr war, als fehlten ihr Idee und Kraft, diese Versäumnisse jemals nachzuholen und den rapiden Alterungsprozess zu stoppen.
Max hatte gerade den Hörer in der Hand, um Natalie abzusagen, als sie an der Tür läutete. Er überlegte kurz, sie nicht hineinzulassen - ein Notfall: Scharlach, Feuchtblattern, Maul- und Klauenseuche, irgendwas mit vielen ekeligen Flecken oder Schaum vor dem Mund, mit hohem Fieber und akuter Ansteckungsgefahr bei Sichtkontakt.
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