»Und was stellte Kolwenik mit diesen Leichen an?«
»Das weiß niemand. Wir haben sie nie gefunden.«
»Aber Sie haben doch eine Theorie dazu, nicht wahr, Víctor?«, fuhr Marina fort.
Florián schaute uns schweigend an.
»Nein.«
Für einen Polizisten, selbst einen pensionierten, log er schlecht. Marina beharrte nicht weiter auf dem Thema. Der Inspektor wirkte müde, aufgezehrt von Schatten, die in seiner Erinnerung wohnten. Seine ganze Wildheit war verschwunden. Die Zigarette zitterte in seinen Händen, und man konnte nur noch schwer sagen, wer da wen rauchte.
»Was dieses Gewächshaus betrifft, von dem ihr mir erzählt habt – geht da nicht wieder hin. Vergesst überhaupt diese ganze Geschichte. Vergesst dieses Fotoalbum, dieses namenlose Grab und die Dame, die es aufsucht. Vergesst Sentís, Shelley und mich – ich bin ja nichts weiter als ein armer alter Kerl, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Diese Geschichte hat schon genug Leben vernichtet. Lasst die Finger davon.«
Er gab dem Kellner ein Zeichen, die Zeche auf seine Rechnung zu setzen, und schloss:
»Versprecht mir, dass ihr auf mich hört.«
Ich fragte mich, wie wir von den Dingen lassen sollten, wo die Dinge doch nicht von uns lassen wollten. Nach allem, was in der Nacht zuvor geschehen war, muteten mich seine Ratschläge wie ein Kindermärchen an.
»Wir werden es versuchen«, antwortete Marina für uns beide.
»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«, erwiderte Florián.
Er begleitete uns zur Standseilbahn und gab uns die Telefonnummer des Lokals.
»Da kennt man mich. Wenn ihr was braucht, ruft mich an, und man wird es mir ausrichten. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Manu, der Wirt, leidet an chronischer Schlaflosigkeit und hört die ganze Nacht BBC, um die Sprache zu lernen. Ihr stört also nicht.«
»Ich weiß nicht, wie wir Ihnen danken sollen.«
»Ihr könnt mir danken, indem ihr auf mich hört und das Ganze auf sich beruhen lasst.«
Wir nickten. Die Bahn öffnete ihre Türen.
»Und Sie, Víctor?«, fragte Marina.»Was werden Sie tun?«
»Was alle alten Leute tun: mich hinsetzen und mich erinnern und mich fragen, was geschehen wäre, wenn ich alles anders gemacht hätte. Los, geht schon.«
Wir setzten uns in den Wagen ans Fenster. Es wurde langsam dunkel. Ein Pfiff war zu hören, und die Türen gingen zu. Mit einem Rütteln begann die Bahn die Abfahrt. Langsam blieben die Lichter von Vallvidrera zurück wie auch die reglos auf dem Bahnsteig stehende Gestalt Floriáns.
Germán hatte ein köstliches italienisches Gericht zubereitet, dessen Name nach Opernrepertoire klang. Wir aßen in der Küche und hörten ihm zu, als er von seinem Schachturnier mit dem Geistlichen erzählte, der ihn wie immer geschlagen hatte. Marina blieb ungewöhnlich still und überließ das Gespräch Germán und mir. Ich fragte mich, ob ich irgendetwas gesagt oder getan hatte, was ihr auf die Nerven gegangen war. Nach dem Essen forderte mich Germán zu einer Schachpartie heraus.
»Liebend gern, aber ich glaube, ich bin dran mit Spülen.«
»Ich werde spülen«, sagte Marina schwach hinter mir.
»Nein, im Ernst«, warf ich ein.
Germán befand sich schon im anderen Zimmer und stellte trällernd die Bauern aufs Spielbrett. Ich wandte mich Marina zu, die wegschaute und zu spülen begann.
»Lass mich dir helfen.«
»Nein… Geh zu Germán. Tu ihm den Gefallen.«
»Kommen Sie, Óscar?«, hörte ich Germán im Wohnzimmer fragen.
Ich betrachtete Marina im Licht der auf der Konsole brennenden Kerzen. Sie wirkte blass, müde.
»Geht’s dir gut?«
Sie wandte sich um und lächelte mir zu. Bei ihrer Art zu lächeln fühlte ich mich immer klein und bedeutungslos.
»Los, geh schon. Und lass ihn gewinnen.«
»Das ist nicht schwer.«
Ich gehorchte ihr, ließ sie in der Küche allein und gesellte mich im Wohnzimmer zu ihrem Vater. Dort setzte ich mich unter dem Quarzkandelaber vors Schachbrett, damit er eine angenehme Weile verbringe, wie es seine Tochter wünschte.
»Sie ziehen, Óscar.«
Ich zog. Er räusperte sich.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass Bauern nicht so springen, Óscar.«
»Entschuldigen Sie.«
»Nicht der Rede wert. Das ist das Feuer der Jugend. Glauben Sie, ich beneide Sie darum. Die Jugend ist wie eine launische Freundin. Wir wissen sie erst zu verstehen und zu schätzen, wenn sie mit einem anderen geht und nie mehr wiederkommt. Ach! Na, ich weiß auch nicht, was das sollte. Also…, Bauer…«
Um Mitternacht riss mich ein Geräusch aus dem Schlaf. Das Haus lag im Halbdunkeln. Ich setzte mich auf den Bettrand und hörte es wieder. Ein gedämpfter ferner Husten. Unruhig stand ich auf und trat auf den Gang hinaus. Das Geräusch kam aus dem unteren Stock. Ich ging an Marinas Zimmer vorbei. Die Tür stand offen, das Bett war leer. Ich spürte einen ängstlichen Stich.
»Marina?«
Keine Antwort. Auf Zehenspitzen stieg ich die kalten Stufen hinunter. Am Fuß der Treppe leuchteten Kafkas Augen. Er miaute schwach und führte mich durch einen dunklen Gang. An dessen Ende sickerte unter einer geschlossenen Tür Licht heraus. Dahinter war der Husten zu hören. Schmerzhaft, japsend. Kafka ging zur Tür und blieb miauend stehen. Sacht klopfte ich an.
»Marina?«
Langes Schweigen.
»Geh, Óscar.«
Ihre Stimme war ein Wimmern. Ich ließ einige Sekunden vergehen und öffnete die Tür. Das weißgeflieste Bad wurde von einer Kerze auf dem Boden knapp erleuchtet. Da kniete Marina und lehnte die Stirn an den Waschbeckenrand. Sie zitterte, und der Schweiß hatte ihr das Nachthemd wie ein Totenhemd an den Leib geklebt. Sie verbarg ihr Gesicht, aber ich konnte trotzdem sehen, dass sie aus der Nase blutete und mehrere scharlachrote Flecken ihre Brust bedeckten. Ich war wie gelähmt, unfähig zu reagieren.
»Was ist denn…?«, flüsterte ich.
»Mach die Tür zu«, sagte sie bestimmt.»Mach zu.«
Ich tat wie geheißen und trat zu ihr. Sie glühte vor Fieber. Das Haar klebte ihr im Gesicht, dieses war von kaltem Schweiß überströmt. Erschrocken wollte ich Germán holen, aber ihre Hand hielt mich mit einer Kraft fest, die ich ihr nie zugetraut hätte.
»Nein!«
»Aber…«
»Es geht mir gut.«
»Es geht dir nicht gut!«
»Óscar, ich flehe dich an, ruf nicht Germán. Er kann nichts tun. Es ist schon vorbei. Es geht mir besser.«
Die Gelassenheit in ihrer Stimme war erschreckend. Ihre Augen suchten meine. Etwas in ihnen brachte mich zum Gehorchen. Da streichelte sie mein Gesicht.
»Keine Angst. Es geht mir besser.«
»Du bist totenblass…«, stotterte ich.
Sie nahm meine Hand und hielt sie sich an die Brust. Ich spürte ihren Herzschlag über den Rippen. Ich zog die Hand zurück und wusste nicht, was ich tun sollte.
»Es geht mir bestens, siehst du? Versprichst du mir, Germán nichts von alledem zu sagen?«
»Warum denn?«, protestierte ich.»Was ist los mit dir?«
Unendlich müde senkte sie die Augen. Ich schwieg.
»Versprich es mir.«
»Du musst einen Arzt aufsuchen.«
»Versprich es mir, Óscar.«
»Wenn du mir versprichst, einen Arzt aufzusuchen.«
»Abgemacht, ich verspreche es dir.«
Sie machte ein Tuch nass und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Ich fühlte mich unnütz.
»Jetzt, da du mich so gesehen hast, werde ich dir nicht mehr gefallen.«
»Finde ich nicht sehr witzig.«
Sie reinigte sich schweigend weiter, ohne die Augen von mir abzuwenden. Ihr in der feuchten, fast durchsichtigen Baumwolle gefangener Körper wirkte zerbrechlich. Es erstaunte mich, dass ich mich überhaupt nicht verlegen fühlte, sie so zu betrachten. Auch ihr war keinerlei Scham wegen meiner Anwesenheit anzumerken. Ihre Hände zitterten, als sie sich säuberte. Ich fand einen Morgenmantel an der Tür und hielt ihn ihr geöffnet hin. Sie schlüpfte hinein und seufzte erschöpft.
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