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Liebe Leser,
immer schon habe ich gedacht, jedem Schriftsteller seien, ob er es zugebe oder nicht, einige seiner Bücher besonders lieb. Diese Vorliebe hat selten etwas mit dem eigentlichen literarischen Wert des Werks zu tun oder mit der Aufnahme, die es seinerzeit beim Publikum gefunden hat, noch mit dem Glück oder Elend seiner Veröffentlichung. Ohne den genauen Grund dafür angeben zu können, fühlt man sich einigen seiner Geschöpfe schlicht näher als anderen. Unter all den Büchern, die ich publiziert habe, seit ich um 1992 diesen seltsamen Beruf des Romanautors ergriffen habe, ist Marina einer meiner Lieblinge.
Ich habe den Roman zwischen 1996 und 1997 in Los Angeles geschrieben. Damals war ich fast dreiunddreißig und wurde von der Ahnung beschlichen, dass das, was irgendein Armleuchter einmal als frühe Jugend bezeichnet hat, mir mit der Geschwindigkeit eines Ozeandampfers zu entgleiten drohte. Vorher hatte ich drei Romane für Jugendliche veröffentlicht, und kurz nach Beginn der Niederschrift von Marina wurde mir klar, dass dieses Buch anders sein würde, ein ehrgeizigerer und auch persönlicherer Roman, in dem ich zum ersten Mal den Schauplatz meines Barcelonas und meiner eigenen Erinnerung erkunden würde. Je weiter ich mit dem Schreiben kam, desto mehr erschien mir Marina als der Übergang zu einer anderen Form des Erzählens, wo ich schließlich das finden würde, was Schriftsteller gemeinhin ›ihre Stimme‹ zu nennen pflegen. Als ich fertig war, hatte ich den Eindruck, etwas in mir drin, etwas, von dem ich selbst heute noch nicht genau weiß, was es war, was ich aber täglich vermisse, sei für immer auf diesen Seiten zurückgeblieben.
Marina ist möglicherweise der am schwersten zu definierende und einzuordnende meiner Romane – und vielleicht auch der persönlichste von allen. Ironischerweise hat mir gerade seine Veröffentlichung am meisten Verdruss bereitet. Er hat zehn Jahre elender und oft unrechtmäßiger Ausgaben überlebt, die in einigen Fällen, ohne dass ich viel dagegen hätte tun können, viele Leser verwirrt haben, indem sie den Roman als etwas auszugeben versuchten, was er nicht war. Und dennoch entdecken weiterhin Leser jeden Alters und Standes auf seinen Seiten irgendetwas und finden Zugang zu diesem Dachgeschoss der Seele, von dem uns der Erzähler, Óscar, berichtet.
Endlich kommt Marina wieder nach Hause, und jetzt können die Leser den Bericht, den Óscar an ihrer Stelle verfasst hat, unter den Bedingungen entdecken, die sich sein Autor immer gewünscht hat. Vielleicht bin ich jetzt mit ihrer Hilfe in der Lage, zu verstehen, warum dieser Roman in meinem Geist weiterhin so gegenwärtig ist wie an dem Tag, an dem ich seine Niederschrift beendete, und ich werde mich, wie Marina sagen würde, wieder an das erinnern können, was nie geschah.
Carlos Ruiz Zafón
Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei. Es sollte eine Ewigkeit dauern, bis ich diese Worte begriff. Doch ich fange besser am Anfang an, und der ist in diesem Fall das Ende.
Im Mai 1980 verschwand ich eine Woche lang vom Erdboden. Sieben Tage und sieben Nächte wusste kein Mensch, wo ich mich befand. Freunde, Kameraden, Lehrer und selbst die Polizei stürzten sich in die Suche nach dem Flüchtigen, den einige schon für tot hielten, während andere dachten, er habe sich in einem Anfall von geistiger Umnachtung in übel beleumdeten Straßen verirrt.
Eine Woche später glaubte ein Zivilpolizist diesen Burschen zu erkennen – die Beschreibung passte. Der Verdächtige irrte im Francia-Bahnhof umher wie eine verlorene Seele in einer aus Eisen und Nebel geschmiedeten Kathedrale. Der Beamte trat mit Detektivmiene zu mir und fragte mich, ob ich Óscar Drai heiße und der spurlos aus seinem Internat verschwundene junge Mann sei. Ich nickte mit zusammengepressten Lippen. Ich erinnere mich noch an die Spiegelung des Bahnhofsgewölbes auf seinen Brillengläsern.
Wir setzten uns auf dem Bahnsteig auf eine Bank. Bedächtig steckte sich der Polizist eine Zigarette an und ließ sie glimmen, ohne sie an die Lippen zu führen. Er sagte, eine Menge Leute brenne darauf, mir viele Fragen zu stellen, für die ich mir besser gute Antworten ausdenke. Wieder nickte ich. Er schaute mir in die Augen und beobachtete mich.»Manchmal ist es keine gute Idee, die Wahrheit zu erzählen, Óscar«, sagte er. Er reichte mir einige Münzen und bat mich, meinen Tutor im Internat anzurufen. Das tat ich. Der Polizist wartete das Ende des Gesprächs ab, gab mir Geld für ein Taxi und wünschte mir Glück. Ich fragte ihn, woher er wisse, dass ich nicht abermals verschwinde. Er schaute mich lange an.»Es verschwinden nur Leute, die auch irgendwo hingehen können«, antwortete er bloß. Er begleitete mich auf die Straße hinaus, wo er sich verabschiedete, ohne mich zu fragen, wo ich gesteckt habe. Ich sah ihn auf dem Paseo de Colón davongehen. Der Qualm seiner noch nicht angerauchten Zigarette folgte ihm wie ein treues Hündchen.
An diesem Tag meißelte Gaudís Geist unmögliche Wolken auf ein Blau, das einen fast erblinden ließ. Mit einem Taxi fuhr ich zum Internat, wo mich vermutlich das Exekutionskommando erwartete.
Vier Wochen lang bearbeiteten mich Lehrer und Schulpsychologen, mein Geheimnis preiszugeben. Ich log und bot jedem das, was er hören wollte oder akzeptieren konnte. Mit der Zeit gaben alle vor, diese Episode vergessen zu haben. Ich folgte ihrem Beispiel. Nie erzählte ich jemandem die Wahrheit.
Damals wusste ich nicht, dass der Ozean der Zeit früher oder später die Erinnerungen anschwemmt, die wir in ihm versenkt haben. Fünfzehn Jahre später ist die Erinnerung an diesen Tag zu mir zurückgekehrt. Ich habe diesen jungen Burschen im Dunst des Francia-Bahnhofs umherirren sehen, und Marinas Name hat sich erneut wie eine frische Wunde entzündet.
Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.
Ende der siebziger Jahre war Barcelona eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, wo man allein beim Betreten eines Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückreisen konnte. In dieser magischen Stadt verliefen Zeit und Erinnerung, Geschichte und Fiktion wie Aquarelle im Regen. Dort war es, wo Kathedralen und aus Fabeln entsprungene Häuser im Klang von nicht mehr existierenden Straßen die Kulisse zu dieser Geschichte bildeten.
Damals war ich ein fünfzehnjähriges Bürschchen, das in den Mauern eines Internats mit Heiligennamen an den Hängen der Straße nach Vallvidrera dahinschmachtete. In jenen Tagen sah das Viertel Sarriá noch wie ein kleines, an den Rändern einer modernistischen Metropolis gestrandetes Dorf aus. Meine Schule thronte am Ende einer Straße, die vom Paseo de la Bonanova aus bergan kletterte. Ihre monumentale Fassade hätte eher auf eine Burg als auf eine Lehranstalt schließen lassen. Die verwinkelte, lehmfarbene Silhouette war ein Puzzle aus Festungstürmen, Bögen und dunklen Flügeln.
Die Schule stand inmitten einer Zitadelle von Gärten, Brunnen, verschlammten Teichen, Höfen und verhexten Pinienbeständen. Darum herum beherbergten düstere Gebäude von gespenstischem Dunst verschleierte Schwimmbecken, stilleverzauberte Turnhallen und verwunschene Kapellen, in denen im Widerschein der Altarkerzen Heiligenbilder lächelten. Das Haus wies vier Stockwerke auf, die beiden Kellergeschosse und ein abgesperrter Zwischenstock nicht eingerechnet, in dem die wenigen Geistlichen hausten, die noch als Lehrer tätig waren. Die Zimmer der Internatsschüler lagen längs höhlenartiger Gänge im vierten Stock. Diese endlosen Galerien ruhten in stetigem Halbdunkel und geisterhaftem Echo.
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