Er lächelte mir traurig zu. In seinem Blick waren dreißig Jahre Gewissensbisse zu lesen.
»Ende 1945 war die Velo-Granell technisch gesehen schon bankrott. Die drei wichtigsten Banken Barcelonas hatten ihre Kreditlinien gekündigt, und die Aktien der Firma waren von der Börse zurückgezogen worden. Nachdem die finanzielle Basis verschwunden war, stürzten die juristische Mauer und das Gerüst der Phantomgesellschaften wie ein Kartenhaus ein. Die Tage des Ruhms waren dahin. Das Gran Teatro Real, geschlossen seit der Tragödie, bei der Ewa Irinowa an ihrem Hochzeitstag verunstaltet wurde, war zu einer Ruine geworden. Fabrik und Ateliers wurden geschlossen, der ganze Besitz des Unternehmens beschlagnahmt. Die Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Kolwenik verlor seine Kaltblütigkeit nicht und beschloss, in der Warenbörse von Barcelona eine Cocktailparty großen Stils zu geben, um Ruhe und Normalität vorzugaukeln. Sein Partner Sentís befand sich am Rande der Panik. Mit den vorhandenen Mitteln war nicht einmal ein Zehntel des Essens zu bezahlen, das für die Veranstaltung bestellt worden war. An alle großen Aktionäre, an Barcelonas wichtige Familien wurden Einladungen versandt. Am betreffenden Abend selbst schüttete es wie aus Kübeln. Die Börse war wie ein Traumpalast geschmückt. Nach neun Uhr kamen von den wichtigsten Vermögen der Stadt, von denen viele Kolwenik zu verdanken waren, Bedienstete mit Entschuldigungsnoten. Als ich eintraf, nach Mitternacht, fand ich Kolwenik allein im Saal, in seinem tadellosen Frack und eine der Zigaretten rauchend, die er sich aus Wien schicken ließ. Er begrüßte mich und bot mir ein Glas Champagner an. ›Essen Sie was, Inspektor, es ist jammerschade, das alles wegzuschmeißen‹, sagte er. Noch nie hatten wir uns direkt gegenübergestanden. Wir unterhielten uns eine Stunde. Er erzählte von Büchern, die er als Jugendlicher gelesen, von Reisen, die er nie gemacht hatte… Kolwenik war ein charismatischer Mann, dem die Intelligenz in den Augen brannte. Ganz gegen meinen Willen war er mir sympathisch, ja er tat mir sogar leid, obwohl ich doch offenbar der Jäger und er die Beute war. Ich sah, dass er hinkte und sich auf einen geschnitzten Elfenbeinstock stützte. ›Ich glaube, noch nie hat jemand an einem Tag so viele Freunde verloren‹, sagte ich. Mit einem ruhigen Lächeln wies er diesen Gedanken von sich. ›Da irren Sie sich, Inspektor. Zu solchen Veranstaltungen lädt man nie seine Freunde ein.‹ Ganz höflich erkundigte er sich, ob ich ihn weiterhin verfolgen werde. Ich antwortete, ich würde nicht eher Ruhe geben, als bis ich ihn vor Gericht gebracht hätte. Er fragte: ›Was könnte ich tun, um Sie von diesem Vorhaben abzubringen, mein lieber Florián?‹ – ›Mich umbringen‹, antwortete ich. ›Alles zu seiner Zeit, Inspektor‹, sagte er lächelnd. Mit diesen Worten hinkte er davon. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber ich lebe noch. Seine letzte Drohung hat Kolwenik nicht wahrgemacht.«
Florián hielt inne und trank genießerisch einen Schluck Bier, als wäre es die letzte Flasche der Welt. Nachdem er sich die Lippen geleckt hatte, fuhr er fort:
»Isoliert und von allen verlassen, lebte Kolwenik von diesem Tag an zurückgezogen mit seiner Frau in dieser grotesken Riesenvilla, die er sich hatte bauen lassen. In den folgenden Jahren bekam ihn keiner zu Gesicht. Nur zwei Personen drangen zu ihm vor: sein ehemaliger Fahrer, ein gewisser Luis Claret, und sein persönlicher Arzt, Dr. Shelley, hinter dem wir ebenfalls her waren. Claret war ein armer Teufel, der Kolwenik verehrte und sich weigerte, ihn zu verlassen, selbst dann, als Ersterer ihm den Lohn nicht mehr bezahlen konnte. Außer diesen beiden sah niemand Kolwenik. Und Shelleys Zeugenaussage, in der er versicherte, er befinde sich in seiner Villa am Park Güell, geplagt von einer Krankheit, die er uns nicht zu erklären vermochte, überzeugte uns nicht im Geringsten, vor allem, nachdem wir einen Blick in seine Archive und seine Buchhaltung geworfen hatten. Eine Zeitlang argwöhnten wir sogar, Kolwenik sei gestorben oder ins Ausland geflüchtet und alles sei nur eine Farce. Shelley behauptete weiterhin, Kolwenik habe sich ein seltsames Leiden zugezogen, das ihn in die Villa verbanne. Er dürfe keinen Besuch empfangen und unter keinen Umständen sein Refugium verlassen, so lautete sein ärztliches Urteil. Weder wir noch der Richter glaubten ihm. Am 31. Dezember 1948 bekamen wir einen Durchsuchungsbefehl für Kolweniks Haus und einen Haftbefehl gegen ihn. Ein großer Teil der vertraulichen Dokumentation der Firma war verschwunden. Wir hatten den Verdacht, sie werde irgendwo im Wohnsitz verborgen gehalten. Inzwischen hatten wir genügend Indizien beisammen, um Kolwenik des Betrugs und der Steuerhinterziehung anzuklagen. Es war sinnlos, noch weiter zu warten. Der letzte Tag des Jahres 1948 sollte auch der letzte sein, an dem sich Kolwenik in Freiheit befand. Eine Sondereinheit war bereit, ihn am nächsten Tag abzuholen. Manchmal muss man sich bei großen Kriminellen damit abfinden, sie für ein paar Kleinigkeiten dingfest zu machen…«
Floriáns Zigarre war wieder ausgegangen. Der Inspektor warf einen letzten Blick darauf und schnippte sie dann in einen leeren Blumentopf, eine Art Massengrab für Stummel, wo schon weitere lagen.
»Am selben Abend zerstörte ein grauenerregender Brand die Villa, der Kolwenik und seine Gattin Ewa das Leben kostete. Im Morgengrauen fand man auf dem Dachboden die beiden verkohlten Leichen in enger Umarmung. Damit waren auch unsere Hoffnungen verbrannt, den Fall unter Dach und Fach zu bringen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass es ein absichtlich herbeigeführter Brand war. Eine Zeitlang glaubte ich sogar, Benjamín Sentís und andere Mitglieder der Firmenleitung hätten dahintergesteckt.«
»Sentís?«, unterbrach ich ihn.
»Es war überhaupt kein Geheimnis, dass Sentís Kolwenik hasste, weil dieser von seinem Vater die Kontrolle über die Firma bekommen hatte, doch sowohl er wie die anderen hatten noch triftigere Gründe, zu verhindern, dass der Fall je vor Gericht käme. Da ein toter Hund nicht mehr bellt, Kolwenik nicht mehr am Leben war, ergab das Puzzle keinen Sinn mehr. Man könnte sagen, dass sich in jener Nacht viele blutbesudelte Hände im Feuer gewissermaßen reingewaschen haben. Einmal mehr ließ sich, wie bei allem, was vom ersten Tag an mit diesem Skandal zu tun hatte, nichts beweisen. Alles endete in Schutt und Asche. Noch heute ist die Ermittlung in Sachen Velo-Granell das größte Rätsel der Polizeigeschichte dieser Stadt. Und der größte Misserfolg meines Lebens…«
»Aber für den Brand konnten Sie ja nichts«, warf ich ein.
»Meine Karriere bei der Kripo war dahin. Ich wurde zur Antisubversiveneinheit abkommandiert. Wisst ihr, was das bedeutet? Die Phantomjäger. So nannte man sie in der Abteilung. Wenn es nicht Zeiten des Hungers gewesen wären und ich mit meinem Lohn nicht meinen Bruder und seine Familie unterhalten hätte, ich hätte den Bettel hingeschmissen. Außerdem, wer wollte schon einen ehemaligen Polizisten einstellen. Man hatte Spione und Petzer satt. Also blieb ich. Die Arbeit bestand darin, um Mitternacht abgerissene Pensionen voller Rentner und Kriegsversehrter zu filzen, um Exemplare des Kapitals und im WC-Spülkasten sozialistische Flugblätter zu suchen, die in Plastikbeuteln versteckt waren, solche Sachen… Anfang 1949 dachte ich, für mich sei alles gelaufen. Alles, was schiefgehen konnte, war noch schiefer gegangen. Das glaubte ich wenigstens. Am frühen Morgen des 13. Dezember 1949, fast ein Jahr nach dem Brand, bei dem Kolwenik und seine Frau umgekommen waren, wurden die zerstückelten Leichen von zwei Inspektoren meiner ehemaligen Abteilung vor den Toren des alten Lagerhauses der Velo-Granell im Born gefunden. Es stellte sich heraus, dass sie dort gewesen waren, um einem Bericht über den Fall Velo-Granell nachzugehen, der ihnen anonym zugekommen war. Ein Hinterhalt. Den Tod, den sie fanden, wünsche ich auch meinem ärgsten Feind nicht. Nicht einmal die Räder eines Zuges richten einen Körper so zu, wie ich es im gerichtsmedizinischen Institut sehen musste. Sie waren gute Polizisten gewesen. Bewaffnet. Und sie wussten, was sie taten. Im Bericht hieß es, mehrere Anwohner hätten Schüsse gehört. Im Umfeld des Verbrechens wurden vierzehn 9-mm-Patronenhülsen gefunden. Alle stammten aus den Dienstwaffen der Inspektoren. An den Wänden wurde kein einziger Einschuss und nirgends ein Geschoss entdeckt.«
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