»Als ich heute Morgen das Frühstück holte, habe ich vom Café auf dem Platz aus im Präsidium angerufen. Inspektor Florián ist pensioniert und wohnt in Vallvidrera. Er hat kein Telefon, aber man hat mir eine Adresse gegeben.«
»In einer Minute bin ich angezogen.«
Die Station der Standseilbahn nach Vallvidrera lag wenige Straßen von Marinas Haus entfernt. In zehn Minuten waren wir dahin marschiert und kauften zwei Fahrkarten. Vom Bahnsteig aus gesehen, bildete das Viertel Vallvidrera einen Balkon über der Stadt. Die Häuser schienen an unsichtbaren Fäden von den Wolken zu hängen. Wir setzten uns hinten in den Wagen und sahen, wie sich Barcelona zu unseren Füßen entfaltete, während die Bahn hangaufwärts kletterte.
»Das muss eine gute Arbeit sein, Seilbahnführer«, sagte ich.»Der himmlische Liftboy.«
Skeptisch schaute mich Marina an.
»Was hab ich eben Falsches gesagt?«
»Nichts. Aber wenn das alles ist, was du anstrebst…«
»Ich weiß nicht, was ich anstrebe. Nicht alle wissen das so genau wie du. Marina Blau, Literaturnobelpreisträgerin und Konservatorin der Hemdensammlung der Bourbonen.«
Sie wurde so ernst, dass mir diese Bemerkung auf der Stelle leidtat.
»Wer nicht weiß, wohin er geht, kommt nirgends hin«, sagte sie frostig.
Ich zeigte ihr meine Fahrkarte.
»Ich weiß, wohin ich gehe.«
Sie schaute weg. Zwei Minuten fuhren wir schweigend weiter. In der Ferne erhob sich die Silhouette meiner Schule.
»Architekt«, murmelte ich.
»Was?«
»Ich will Architekt werden. Das strebe ich an. Ich habe es noch nie jemandem gesagt.«
Endlich lächelte sie. Rüttelnd wie eine alte Waschmaschine kam die Bahn oben auf dem Berg an.
»Ich wollte schon immer meine eigene Kathedrale haben«, sagte Marina.»Hast du irgendeinen Vorschlag?«
»Gotisch. Lass mir Zeit, und ich werde dir eine bauen.«
Die Sonne beschien voll ihr Gesicht, und ihre auf mich gerichteten Augen glänzten.
»Versprochen?«, fragte sie und hielt mir die offene Hand hin.
Ich drückte sie kräftig.
»Versprochen.«
Die Adresse, die Marina bekommen hatte, gehörte zu einem alten Haus direkt am Abgrund. Das Gestrüpp hatte sich des Gartens bemächtigt. Dazwischen stand ein verrosteter Briefkasten wie eine Ruine aus dem Industriezeitalter. Wir schlängelten uns zur Tür durch. Dahinter konnte man Kartonschachteln mit zusammengebundenen Bergen alter Zeitungen erkennen. Abgenutzt von Wind und Feuchtigkeit, blätterte der Fassadenanstrich ab wie schuppige Haut. Inspektor Víctor Florián gab nicht eben viel für Repräsentation aus.
»Hier ist tatsächlich ein Architekt vonnöten«, sagte Marina.
»Oder eine Abbruchbrigade.«
Sanft klopfte ich an. Ich fürchtete, das Haus in den Abgrund zu stoßen, wenn ich es kräftiger täte.
»Und wenn du es mit der Klingel versuchst?«
Der Knopf war entzwei, und im Loch sah man elektrische Kabel aus Edisons Zeiten.
»Da steck ich meinen Finger nicht rein.«Ich klopfte ein zweites Mal an.
Auf einmal ging die Tür zehn Zentimeter auf. Vor zwei metallisch blitzenden Augen glänzte eine Sicherheitskette.
»Wer ist da?«
»Víctor Florián?«
»Das bin ich. Ich frage aber, wer da ist.«
Die Stimme klang autoritär und über die Maßen ungeduldig. Eine Strafzettelstimme.
»Wir haben Nachrichten von Michail Kolwenik…«, sagte Marina zur Vorstellung.
Die Tür ging weit auf. Víctor Florián war ein breiter, kräftiger Mann. Er trug denselben Anzug wie am Tag seiner Pensionierung – so dachte ich wenigstens. Sein Ausdruck war der eines alten Obersts ohne Krieg noch Bataillon zum Befehligen. Von den Lippen hing ihm eine erloschene Zigarre, und jede Braue war dichter behaart als bei den meisten Menschen der ganze Kopf.
»Was wollt denn ihr von Kolwenik wissen? Wer seid ihr? Wer hat euch überhaupt diese Adresse gegeben?«
Florián stellte die Fragen nicht, er feuerte sie auf uns ab. Nachdem er sich umgeschaut hatte, als befürchtete er, es sei uns jemand gefolgt, hieß er uns eintreten. Im Innern war das Haus ein Nest von Unrat, das nach Hinterzimmer roch. Es gab mehr Papier als in der Bibliothek von Alexandria, aber alles war durcheinander, wie von einem Ventilator geordnet.
»Geht nach hinten.«
Wir kamen an einem Zimmer vorbei, an dessen Wänden Dutzende Waffen hingen, Revolver, automatische Pistolen, Mausergewehre, Bajonette. Es waren schon Revolutionen mit weniger Artillerie angezettelt worden.
»Heilige Muttergottes…«, flüsterte ich.
»Ruhe, das ist keine Kapelle«, sagte Florián schneidend und schloss die Tür zu diesem Zeughaus.
Was er hinten genannt hatte, war ein kleines Esszimmer, von dem aus man ganz Barcelona betrachten konnte. Selbst im Ruhestand wachte der Inspektor in der Höhe. Er deutete auf ein durchlöchertes Sofa. Auf dem Tisch standen eine halbgeleerte Dose Bohnen und eine Flasche Estrella-Dorada-Bier ohne Glas. Polizistenrente, Elendsalter, dachte ich. Florián setzte sich uns gegenüber auf einen Stuhl und ergriff einen Trödelwecker, den er, Zifferblatt zu uns, auf den Tisch knallte.
»Fünfzehn Minuten. Wenn ihr mir in einer Viertelstunde nichts gesagt habt, was ich nicht eh schon weiß, werf ich euch hochkant raus.«
Wir brauchten deutlich länger als fünfzehn Minuten, um das Vorgefallene zu erzählen. Je länger sich Víctor Florián unsere Geschichte anhörte, desto mehr Risse bekam seine Fassade. Zwischen den Ritzen erriet ich den verbrauchten, erschreckten Mann, der sich in diesem Loch mit seinen alten Zeitungen und seiner Waffensammlung versteckte. Als wir ans Ende gelangt waren, nahm Florián seine Zigarre, betrachtete sie schweigend fast eine Minute lang und zündete sie schließlich an.
Dann begann er zu sprechen, den Blick in der im Dunst liegenden phantasmagorischen Stadt versunken.
»Im Jahr 1945 war ich Inspektor bei der Kripo Barcelona«, begann Florián.»Eigentlich wollte ich um meine Versetzung nach Madrid nachsuchen, da wurde mir der Fall Velo-Granell übertragen. Die Kripo war schon fast drei Jahre hinter Michail Kolwenik her, einem Ausländer mit wenig Sympathien beim Regime, aber man hatte ihm nichts nachweisen können. Mein Vorgänger hatte sein Amt niedergelegt. Die Velo-Granell war durch eine Mauer von Anwälten und ein Labyrinth von Finanzgesellschaften abgeschirmt, eine Wolke, in der sich alles auflöste. Meine Vorgesetzten verkauften mir den Fall als einmalige Chance, Karriere zu machen. Solche Fälle versetzen dich in ein Büro im Ministerium mit Fahrer und der Arbeitszeit eines Marquis, wurde mir gesagt. Ehrgeiz ist etwas für Idioten…«
Florián machte eine Pause, um seine Worte auszukosten, und grinste sarkastisch vor sich hin. Er kaute auf seiner Zigarre herum wie auf einem Süßholzstengel.
»Als ich das Dossier des Falls studierte, stellte ich fest, dass, was als Routineuntersuchung finanzieller Unregelmäßigkeiten und möglichen Betrugs begonnen hatte, sich zu einem Verfahren ausgewachsen hatte, von dem niemand wusste, welcher Einheit es übergeben werden sollte. Erpressung. Diebstahl. Versuchter Mord. Und da gab es noch mehr. Ihr müsst bedenken, dass sich meine Erfahrung bis dahin auf Fälle von Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Betrug und Rechtsbeugung gründete. Nicht immer wurden solche Unregelmäßigkeiten bestraft, es waren andere Zeiten, aber wir wussten alles.«
Unbehaglich hüllte er sich in eine blaue Wolke des eigenen Rauchs.
»Warum haben Sie den Fall dann angenommen?«, fragte Marina.
»Aus Arroganz. Aus Ehrgeiz und Habsucht.«Er sprach über sich in dem Ton, den er sich sonst, wie ich mir vorstellte, für die schlimmsten Kriminellen aufsparte.
»Vielleicht auch, um die Wahrheit herauszufinden«, meinte ich.»Um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
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