Ich lief hinterher und schaute hinaus in der Erwartung, den Körper ins Leere sausen zu sehen. Unwahrscheinlich schnell glitt die Gestalt die Abwasserrohre hinunter. Ihr schwarzes Cape flatterte im Wind. Dann sprang sie auf die Dächer des Ostflügels und wich einem Wald von Wasserspeiern und Türmen aus. Gelähmt verfolgte ich, wie sich die höllische Erscheinung panthergleich und mit unmöglichen Pirouetten unter dem Gewitter entfernte, als wären die Dächer von Barcelona ihr Dschungel. Ich sah, dass der Fensterrahmen voller Blut war, und folgte der Spur auf den Gang hinaus. Erst nach einer Weile begriff ich, dass es nicht mein Blut war. Ich hatte mit dem Messer ein menschliches Wesen verletzt. Ich lehnte mich an die Wand. Meine Knie gaben nach, und erschöpft sank ich in die Hocke.
Ich weiß nicht, wie lange ich so verharrte. Als ich endlich aufstehen konnte, beschloss ich, den einzigen Ort aufzusuchen, an dem ich mich sicher fühlen würde.
Bei Marina angekommen, tastete ich mich durch den Garten um das Haus herum zum Kücheneingang. Zwischen den Fensterläden tanzte warmes Licht. Mit einem Gefühl der Erleichterung klopfte ich an und trat ein. Die Tür war nicht abgeschlossen. Trotz der späten Stunde schrieb Marina am Küchentisch bei Kerzenlicht in ihr Heft, Kafka auf dem Schoß. Als sie mich erblickte, fiel ihr die Feder aus der Hand.
»Mein Gott, Óscar! Was…?«Sie besah sich meine zerrissenen, schmutzigen Kleider und berührte leicht die Kratzer in meinem Gesicht.»Was ist denn passiert?«
Nach zwei Tassen heißen Tees schaffte ich es, Marina zu erzählen, was geschehen war – oder an was ich mich noch erinnerte, denn langsam begann ich an meinen Sinnen zu zweifeln. Sie hörte mir zu und nahm dabei meine Hand zwischen die ihren, um mich zu beruhigen. Ich musste noch übler aussehen, als ich gedacht hatte.
»Macht es dir was aus, wenn ich die Nacht hier verbringe? Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ins Internat zurück will ich nicht.«
»Das würde ich auch nicht zulassen. Du kannst so lange bei uns bleiben wie nötig.«
»Danke.«
In ihren Augen erkannte ich dieselbe Unruhe, die auch an mir nagte. Nach dem, was diese Nacht geschehen war, war ihr Haus so sicher wie das Internat oder sonst ein Ort. Das Geschöpf, das uns verfolgt hatte, wusste uns überall zu finden.
»Was sollen wir jetzt tun, Óscar?«
»Wir könnten diesen Inspektor aufsuchen, den Shelley erwähnt hat, Florián, und auf diese Weise herausfinden, was da wirklich vor sich geht.«
Sie seufzte.
»Hör zu, vielleicht geh ich besser…«, sagte ich.
»Unter keinen Umständen. Ich richte dir oben ein Zimmer, neben meinem. Komm.«
»Und was – was wird Germán sagen?«
»Er wird sich sehr freuen. Wir werden ihm sagen, du verbringst Weihnachten bei uns.«
Ich folgte ihr treppauf. Noch nie war ich oben gewesen. Ein von eichenen Kassettentüren gesäumter Korridor lag im Licht des Leuchters. Mein Zimmer befand sich am Ende des Gangs neben demjenigen Marinas. Die Möbel sahen aus wie aus dem Antiquariat, aber alles war reinlich und aufgeräumt.
»Die Laken sind sauber«, sagte Marina, während sie das Bett aufschlug.»Im Schrank gibt es noch mehr Decken, falls dir kalt wird. Und hier sind Handtücher. Ich schau mal, ob ich einen Pyjama von Germán für dich finde.«
»Darin werde ich mich wie in einem Zelt fühlen…«, sagte ich.
»Besser zu groß als zu klein. Ich bin in einer Sekunde wieder da.«
Während ich hörte, wie sich ihre Schritte im Gang entfernten, legte ich meine Kleider über einen Stuhl und glitt zwischen die sauberen, gestärkten Laken. Ich glaube, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so müde gewesen. Meine Lider waren bleischwer. Marina brachte eine Art zwei Meter langes Nachthemd zurück, das aussah wie aus der Wäschesammlung einer Infantin entwendet.
»Kommt nicht in Frage«, sagte ich.»Darin schlafe ich nicht.«
»Es ist das Einzige, was ich gefunden habe. Es wird dir wie angegossen passen. Außerdem mag es Germán nicht, wenn ich nackte Jungs zum Übernachten hier habe. Regeln.«
Sie warf mir das Nachthemd zu und ließ zwei Kerzen auf der Konsole stehen.
»Wenn du was brauchst, klopf einfach an die Wand.«
Einen Augenblick sahen wir uns schweigend an. Schließlich wandte Marina den Blick ab.
»Gute Nacht, Óscar«, flüsterte sie.
»Gute Nacht.«
Als ich erwachte, war das Zimmer lichtdurchflutet. Es lag gegen Osten, und im Fenster stieg glänzend die Sonne über der Stadt auf. Bevor ich aufstand, bemerkte ich, dass meine Kleider nicht mehr auf dem Stuhl lagen. Mir war klar, was das bedeutete, und ich verfluchte so viel Liebenswürdigkeit, überzeugt, dass Marina es absichtlich getan hatte. Unter der Tür drang der Duft nach frischem Brot und Kaffee herein. Ich ließ jede Hoffnung auf Wahrung meiner Würde fahren und schickte mich an, in diesem lächerlichen Nachthemd in die Küche hinunterzugehen. Als ich auf den Gang hinaustrat, sah ich, dass das ganze Haus in magisches Licht getaucht war. In der Küche hörte ich meine Gastgeber schwatzen. Ich wappnete mich mit Mut und stieg die Treppe hinunter. Auf der Schwelle zur Küche blieb ich stehen und räusperte mich. Marina schenkte Germán eben Kaffee ein und schaute auf.
»Guten Morgen, Dornröschen«, sagte sie.
Germán wandte sich um und stand höflich auf, um mir seine Hand und einen Stuhl am Tisch anzubieten.
»Morgen, mein lieber Óscar!«, rief er begeistert.»Es ist ein Vergnügen, Sie bei uns zu haben. Marina hat mir das mit den Bauarbeiten im Internat schon erzählt. Sie sollen wissen, dass Sie so lange hierbleiben können wie nötig, ohne jedes Problem. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
»Herzlichen Dank.«
Verschlagen lächelnd, schenkte mir Marina eine Tasse Kaffee ein und zeigte auf das Nachthemd.
»Passt dir super.«
»Göttlich. Ich bin eine wahre Augenweide. Wo sind meine Kleider?«
»Ich habe sie einmal durchgewaschen und dann zum Trocknen aufgehängt.«
Germán schob mir ein Tablett mit eben in der Konditorei Foix erstandenen Hörnchen hin. Mir lief ein Fluss im Mund zusammen.
»Probieren Sie eins von denen, Óscar«, sagte er.»Das ist der Mercedes-Benz unter den Hörnchen. Und täuschen Sie sich nicht – was Sie hier sehen, ist keine Marmelade, sondern ein Gedicht.«
Mit dem Appetit eines Schiffbrüchigen putzte ich alles gierig auf, was vor mich hingestellt wurde. Germán blätterte zerstreut in der Zeitung. Er wirkte aufgeräumt, und obwohl er schon zu Ende gefrühstückt hatte, stand er erst auf, als ich satt und nur das Besteck noch nicht gegessen war. Dann schaute er auf die Uhr.
»Du kommst zu spät zu deinem Treffen mit dem Geistlichen, Papa«, erinnerte ihn Marina.
Er nickte ein wenig ärgerlich.
»Ich weiß auch nicht, warum ich mir das antue…«, sagte er.»Dieser Halunke stellt einem mehr Fallen als ein Jäger.«
»Das ist die Uniform«, sagte Marina.»Er glaubt, das gibt ihm das Recht.«
Verwirrt schaute ich die beiden an – ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprachen.
»Schach«, erklärte Marina.»Seit Jahren tragen Germán und der Geistliche ein Duell aus.«
»Fordern Sie nie einen Jesuiten zum Schach heraus, mein lieber Óscar. Hören Sie auf mich. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…«Er stand auf.
»Aber selbstverständlich. Viel Glück.«
Er nahm Überzieher, Hut und Ebenholzstock und machte sich auf zu seinem Treffen mit dem strategischen Prälaten. Sowie er verschwunden war, ging Marina in den Garten und kam mit meinen Kleidern zurück.
»Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass Kafka darauf geschlafen hat.«
Die Kleider waren trocken, aber der Katzengeruch würde auch nach dem fünften Waschen nicht verschwunden sein.
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