»Vous avez du poison au cœur, mademoiselle.« Als ich ihm meinen Tribut entrichten wollte, schüttelte er sanft den Kopf und küßte mir seinerseits die Hand.
Ich kam eben rechtzeitig zur Gare d’Austerlitz, um den Zwölf-Uhr-Zug nach Barcelona zu nehmen. Der Schaffner, der mir die Fahrkarte verkaufte, fragte, ob es mir gutgehe. Ich nickte und zog mich in mein Abteil zurück. Der Zug fuhr bereits ab, als ich aus dem Fenster schaute und Juliáns Gestalt auf dem Bahnsteig erblickte, genau dort, wo ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ich schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Zug den Bahnhof und diese verhexte Stadt, in die ich nie würde zurückkehren können, verlassen hatte. Im Morgengrauen des folgenden Tages kam ich in Barcelona an. An diesem Tag wurde ich vierundzwanzig und wußte, daß das Beste meines Lebens bereits Vergangenheit war.
Wieder in Barcelona, ließ ich einige Zeit verstreichen, bevor ich Miquel Moliner aufsuchte. Ich mußte Julián vergessen, und mir wurde klar, daß ich keine Antwort wüßte, wenn mich Miquel nach ihm fragen würde. Als wir uns wiedersahen, brauchte ich ihm gar nichts zu sagen. Er schaute mir bloß in die Augen und nickte. Er erschien mir dünner als vor meiner Reise nach Paris, das Gesicht war fast krankhaft blaß, was ich dem Übermaß an Arbeit zuschrieb, mit der er sich kasteite. Er gestand mir, er befinde sich in wirtschaftlicher Bedrängnis, denn er hatte fast das ganze geerbte Geld für seine philanthropischen Schenkungen ausgegeben, und jetzt versuchten ihn die Anwälte seiner Geschwister aus seinem kleinen Palast zu werfen mit dem Argument, eine Klausel im Testament des alten Moliner spezifiziere, daß Miquel nur unter der Voraussetzung dort wohnen könne, daß er das Haus in gutem Zustand erhalte und die erforderliche Solvenz beweisen könne. Andernfalls gehe der Palast in der Calle Puertaferrisa an seine andern Geschwister über.
»Mein Vater hat geahnt, daß ich sein Geld bis auf den letzten Heller für all das ausgeben würde, was er sein Leben lang gehaßt hat.«
Seine Einkünfte als Kolumnist und Übersetzer erlaubten es ihm bei weitem nicht, so einen Wohnsitz zu unterhalten.
»Das schwierige ist nicht, einfach so Geld zu verdienen«, klagte er.
»Das schwierige ist, es mit etwas zu verdienen, was es wert ist, daß man ihm sein Leben widmet.«
Ich vermutete, er beginne heimlich zu trinken. Manchmal zitterten seine Hände. Ich besuchte ihn jeden Sonntag und nötigte ihn hinaus, weg von seinem Schreibtisch und seinen Lexika. Ich wußte, daß es ihn schmerzte, mich zu sehen, und tat, als erinnerte ich mich nicht mehr, daß er mir seine Liebe erklärt und ich ihn abgewiesen hatte, aber manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich voller Sehnsucht und Verlangen anschaute. Meine einzige Entschuldigung dafür, daß ich ihn so grausam behandelte: Nur Miquel kannte die Wahrheit über Julián und Penélope Aldaya.
In diesen Monaten, die ich fern von Julián verbrachte, war Penélope Aldaya zu einem Geist geworden, der mir den Schlaf und den klaren Verstand raubte. Ich erinnerte mich noch immer an Irène Marceaus enttäuschtes Gesicht, als sie sah, daß ich nicht die Frau war, auf die Julián wartete. Penélope Aldaya war — hinterhältig, weil nicht anwesend — eine zu mächtige Gegnerin für mich. Da unsichtbar, war sie in meiner Vorstellung vollkommen, ein Licht, in dessen Schatten ich mich verlor, unwürdig, gewöhnlich, antastbar. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ich, so ganz gegen meinen Willen, jemanden derart hassen konnte, den ich nicht einmal kannte, den ich kein einziges Mal gesehen hatte. Vermutlich dachte ich, wenn er ihr wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde, wenn er sähe, daß sie aus Fleisch und Blut war, wäre der Bann gebrochen und Julián wieder frei. Und ich mit ihm. Ich nahm an, es sei nur eine Frage der Zeit, der Geduld. Früher oder später würde mir Miquel die Wahrheit erzählen. Und die Wahrheit würde mich frei machen.
Eines Tages, als wir durch den Kreuzgang der Kathedrale spazierten, erklärte mir Miquel erneut seine Liebe. Ich schaute ihn an und sah einen einsamen Menschen ohne Hoffnung. Ich wußte, was ich tat, als ich ihn mit nach Hause nahm und mich von ihm verführen ließ. Ich wußte, daß ich ihn betrog und daß er es ebenfalls wußte, aber ich hatte sonst nichts auf der Welt. So wurden wir Geliebte, aus Verzweiflung. In seinen Augen sah ich, was ich in denen Juliáns hätte sehen wollen. Ich spürte, daß ich mich, wenn ich mich ihm hingab, an Julián und an Penélope und an allem rächte, was mir verwehrt war. Miquel, krank vor Verlangen und Einsamkeit, wußte, daß unsere Liebe eine Farce war, und trotzdem konnte er nicht von mir lassen. Mit jedem Tag trank er mehr, und oft konnte er mich kaum nehmen. Dann scherzte er bitter, nun seien wir doch noch in Rekordzeit ein mustergültiges Ehepaar geworden. Aus Gram und Feigheit taten wir uns gegenseitig weh. Eines Abends, fast ein Jahr nach meiner Rückkehr aus Paris, bat ich ihn, mir die Wahrheit über Penélope zu erzählen. Er hatte getrunken und wurde aufbrausend, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Voller Wut beschimpfte er mich und beschuldigte mich, ihn nie geliebt zu haben, eine ganz gewöhnliche Nutte zu sein. Er riß mir die Kleider in Fetzen vom Leib, und als er mich vergewaltigen wollte, legte ich mich hin, bot mich ihm widerstandslos an und weinte leise. Miquel brach zusammen und flehte um Verzeihung. Wie gern hätte ich ihn und nicht Julián geliebt, wie gern wäre ich bei ihm geblieben, aber ich konnte nicht. Wir umarmten uns im Dunkeln, und ich bat ihn um Vergebung für all die Schmerzen, die ich ihm zugefügt hatte. Da sagte er mir, wenn ich es wirklich wolle, würde er mir die Wahrheit über Penélope Aldaya erzählen. Auch das war ein Fehler von mir.
An jenem Sonntag des Jahres 1919, an dem Miquel Moliner zur Estación de Francia gegangen war, um seinem Freund Julián die Fahrkarte nach Paris zu geben und sich von ihm zu verabschieden, wußte er bereits, daß Penélope nicht zu dem Stelldichein käme. Als Don Ricardo Aldaya nämlich zwei Tage zuvor aus Madrid zurückgekehrt war, hatte ihm seine Frau gestanden, sie habe Julián und ihre Tochter Penélope zusammen im Zimmer der Kinderfrau Jacinta ertappt. Jorge Aldaya wiederum hatte Miquel verraten, was am Vortag geschehen war, und nahm ihm den Schwur ab, es nie jemandem zu erzählen. Er berichtete, auf diese Enthüllung hin sei Don Ricardo vor Wut explodiert und brüllend zum Zimmer Penélopes gelaufen, die sich beim Geschrei ihres Vaters eingeschlossen habe und vor Schreck in Tränen ausgebrochen sei. Don Ricardo trat die Tür ein und fand Penélope auf den Knien, zitternd und um Vergebung bittend. Da gab er ihr eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Nicht einmal Jorge war fähig, die Worte zu wiederholen, die Don Ricardo ausstieß, glühend vor Zorn. Sämtliche Familienmitglieder und das Gesinde warteten unten, erschreckt und ohne zu wissen, was tun. Jorge versteckte sich in seinem Zimmer, im Dunkeln, aber selbst da waren die Schreie seines Vaters zu hören. Don Ricardo befahl den Bediensteten, Jacinta noch am selben Tag aus dem Haus zu werfen, ohne daß er sie noch einmal zu sehen geruhte, und drohte ihnen dasselbe Los an, falls sich irgend jemand von ihnen mit ihr in Verbindung setze.
Als er in die Bibliothek hinunterging, war es bereits Mitternacht. Er hatte Penélope in Jacintas ehemaligem Zimmer eingeschlossen und verbot allen, Familienmitgliedern wie Angestellten, strikt, zu ihr hinaufzugehen. In seinem Zimmer hörte Jorge seine Eltern im unteren Stock miteinander sprechen. Mitten in der Nacht kam der Arzt. Señora Aldaya führte ihn in das Zimmer, in dem Penélope eingeschlossen war, und wartete in der Tür, während er sie untersuchte. Als er wieder herauskam, nickte der Arzt nur und nahm seine Bezahlung entgegen. Jorge hörte, wie Don Ricardo zu ihm sagte, wenn er jemandem erzähle, was er gesehen habe, werde er persönlich seinen Ruf ruinieren und zu verhindern wissen, daß er je wieder praktiziere. Sogar Jorge war klar, was das bedeutete.
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