»Ich nehme dich beim Wort, und jetzt verzieh ich mich schleunigst, zweiunddreißig leere Köpfe warten auf mich.« Professor Velázquez zwinkerte mir zu, verschwand im Vorlesungsraum und ließ mich mit Bea allein. Ich wußte nicht, wohin mit den Augen.
»Hör zu, Bea, das mit dem blöden Witz, ehrlich, ich…«
»Ich hab dich auf den Arm genommen, Daniel. Ich weiß doch, daß wir damals noch Kinder waren, und Tomás hat dich schon genug verprügelt.«
»Es tut jetzt noch weh.« Bea lächelte mich an, als hätten wir Frieden oder zumindest Waffenruhe.
»Außerdem hattest du ja recht, ich bin etwas affektiert und manchmal ein wenig eingebildet. Ich bin dir nicht sehr sympathisch, was, Daniel?« Die Frage überrumpelte mich, ich war entwaffnet und erschreckt, wie leicht sich die Antipathie für jemanden, den man als Feind betrachtet, verliert, sobald er sich nicht mehr als solcher benimmt.
»Nein, das stimmt nicht.«
»Tomás sagt, eigentlich bin ich dir nicht unsympathisch, aber du kannst meinen Vater nicht ausstehen und läßt mich dafür büßen, weil du dich nicht an ihn rantraust. Ich gebe dir keine Schuld. An meinen Vater traut sich keiner ran.« Ich wurde bleich, aber nach wenigen Sekunden lächelte ich und nickte.
»Offenbar kennt mich Tomás besser als ich selbst.«
»Das darf dich nicht wundern. Mein Bruder weiß sehr genau, wie wir alle sind, er sagt nur nie was. Aber wenn er eines Tages auf den Gedanken kommt, den Mund aufzutun, werden die Wände einstürzen. Er schätzt dich sehr, weißt du.« Ich zuckte die Achseln und schaute zu Boden.
»Er spricht immer von dir und von deinem Vater und der Buchhandlung und dem Freund da, der für euch arbeitet und von dem Tomás sagt, er ist ein Genie, das man erst noch entdecken muß. Manchmal hat man das Gefühl, er hält euch eher für seine richtige Familie als die, die er zu Hause hat.« Ich begegnete ihrem starken, offenen, furchtlosen Blick. Ich wußte nicht, was erwidern, und lächelte nur. Ich spürte, daß mir bei ihrer Aufrichtigkeit angst und bange wurde, und schaute in den Innenhof hinunter.
»Ich hab nicht gewußt, daß du hier studierst.«
»Das ist mein erstes Jahr.«
»Literatur?«
»Mein Vater ist der Meinung, die exakten Wissenschaften sind nichts fürs schwache Geschlecht.«
»Hm. Viele Zahlen.«
»Es ist mir egal — was mir Spaß macht, ist die Lektüre, und zudem lernt man hier interessante Leute kennen.«
»Wie Professor Velázquez?« Bea lächelte mit geschlossenen Lippen.
»Ich mag ja im ersten Jahr sein, aber ich weiß genug, um den Braten zu riechen, Daniel. Besonders bei Leuten seines Schlages.« Ich fragte mich, welchem Schlag sie wohl mich zuordnete.
»Außerdem ist Professor Velázquez ein Freund meines Vaters. Sie sitzen beide im Vorstand des Verbandes zum Schutz und zur Förderung der Zarzuela und der spanischen Lyrik.« Ich setzte ein höchst beeindrucktes Gesicht auf.
»Und wie geht’s deinem Freund, dem Leutnant Cascos Buendía?« Ihr Lächeln verschwand.
»Pablo kommt in drei Wochen auf Urlaub.«
»Da wirst du dich aber freuen.«
»Sehr. Er ist ein Prachtjunge, aber ich kann mir ungefähr ausmalen, was du von ihm hältst.« Das bezweifle ich, dachte ich. Sie schaute mich ein wenig angespannt an. Eigentlich wollte ich das Thema wechseln, aber meine Zunge war schneller.
»Tomás sagt, ihr werdet heiraten und nach El Ferrol ziehen.« Sie nickte.
»Sobald er mit dem Militärdienst fertig ist.«
»Du bist bestimmt ungeduldig.« Ich spürte den Schweinehund in meiner Stimme, einer unverschämten Stimme, von der ich nicht wußte, woher sie kam.
»Es ist mir egal, ehrlich gesagt. Seine Familie hat Besitz dort, zwei Werften, und Pablo wird eine davon übernehmen. Er ist sehr talentiert für Führungsaufgaben.«
»Das sieht man ihm an.« Beas Lächeln war gepreßt.
»Und zudem kenne ich Barcelona nach all den Jahren allmählich…« Ihr Blick war müde, traurig.
»Soviel ich gehört habe, ist El Ferrol eine faszinierende Stadt. Quicklebendig. Und erst die Meeresfrüchte, die sollen ja fabelhaft sein, ganz besonders die Seespinnen.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Ich hatte das Gefühl, am liebsten hätte sie vor Wut geweint, aber dazu war sie zu stolz. Sie lächelte ruhig.
»Zehn Jahre, und noch immer hast du die Lust nicht verloren, mich zu beleidigen, nicht wahr, Daniel? Nur zu, mach deinem Herzen Luft. Es ist meine Schuld, weil ich dachte, vielleicht könnten wir Freunde sein oder so tun, als wären wir es, aber vermutlich bin ich nicht soviel wert wie mein Bruder. Tut mir leid, daß du meinetwegen Zeit verloren hast.« Sie machte kehrt und schritt durch den Gang davon, der zur Bibliothek führte. Ich sah, wie sie sich über die weißschwarzen Fliesen entfernte, während ihr Schatten die von den Glasfenstern hereinfallenden Lichtvorhänge unterbrach.
»Warte, Bea.« Ich verfluchte mich und rannte ihr nach. Mitten im Gang packte ich sie am Arm, um sie aufzuhalten. Sie warf mir einen Blick zu, der brannte.
»Verzeih mir. Aber du irrst dich: Es ist nicht deine Schuld, sondern meine. Ich bin nicht soviel wert wie dein Bruder oder du. Und wenn ich dich beleidigt habe, dann aus Neid auf diesen Idioten, der dein Freund ist, und aus Wut über den Gedanken, daß jemand wie du nach El Ferrol oder in den Kongo geht, um ihm nachzufolgen.«
»Daniel…«
»Du irrst dich in mir, denn wir können wirklich Freunde sein, wenn du es mich versuchen läßt, jetzt, wo du weißt, wie wenig ich wert bin. Und du irrst dich auch mit Barcelona, denn obwohl du meinst, du kennst es, garantiere ich dir, daß es nicht so ist und daß ich es dir beweisen werde, wenn du mich läßt.« Ich sah, wie sie zu lächeln begann.
»Du sagst besser die Wahrheit«, sagte sie.
»Weil ich es sonst meinem Bruder sage, und der wird dir den Kopf rausziehen wie einen Korken.« Ich streckte ihr die Hand entgegen.
»Finde ich richtig. Freunde?« Sie reichte mir die ihre.
»Wann hast du am Freitag aus?« fragte ich.Sie zögerte einen Augenblick.
»Um fünf.«
»Ich werde Punkt fünf im Kreuzgang auf dich warten, und bevor es dunkel wird, werde ich dir beweisen, daß es in Barcelona etwas gibt, was du noch nicht kennst, und daß du nicht mit diesem Schwachkopf nach El Ferrol gehen kannst, von dem ich mir nicht vorstellen kann, daß du ihn liebst, denn wenn du es tust, wird dich die Stadt verfolgen, und du wirst vor Gram sterben.«
»Du scheinst ja sehr selbstsicher, Daniel.« Ich, der ich nie auch nur sicher war, wie spät es war, nickte in der Gewißheit des Ignoranten. Ich blieb stehen und sah sie durch diese endlose Galerie davongehen, bis ihre Gestalt mit dem Halbdunkel verschmolz und ich mich fragte, was ich da eigentlich getan hatte.
Der Hutladen Fortuny oder das, was von ihm übrig war, moderte im Erdgeschoß eines schmalen, ruß geschwärzten, elend aussehenden Hauses in der Ronda de San Antonio neben der Plaza de Goya vor sich hin. Noch waren die in die verschmutzte Schaufensterscheibe gravierten Buchstaben zu lesen, und an der Fassade bewegte sich im Wind ein Schild in Form einer Melone, das maßgeschneiderte Modelle und die letzten Neuheiten aus Paris verhieß. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß gesichert, das wenigstens zehn Jahre da zu hängen schien. Ich drückte die Stirn ans Glas, um das Dunkel des Raums zu durchdringen.
»Wenn Sie wegen der Vermietung kommen, kommen Sie zu spät«, sagte eine Stimme hinter mir.
»Der Liegenschaftenverwalter ist schon gegangen.«
Die Frau, die mich angesprochen hatte, mußte um die sechzig sein und trug die nationale Uniform frommer Witwen. Unter einem rosa Kopftuch lugten zwei Lockenwickler hervor, und die wattierten Pantoffeln paßten zu den fleischfarbenen, bis knapp unters Knie reichenden Strümpfen. Ich war mir fast sicher, daß sie die Pförtnerin des Hauses war.
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