»Ich vermute, es gibt nicht viele, die Sie zu versetzen wagen, Señor Corelli.«
Der Patron schaute mir in die Augen.
»Nein. Tatsächlich sind Sie der Einzige, der mir in den Sinn kommt.«
Er nahm ein Stück Zucker und ließ es in seine Tasse gleiten. Ein zweites und ein drittes folgten. Er probierte den Kaffee und gab noch vier Stück dazu. Ein achtes steckte er sich in den Mund.
»Zucker entzückt mich«, bemerkte er.
»Sie zucken vor nichts zurück.«
»Sie sagen so gar nichts über unser Projekt, lieber Martín. Irgendein Problem?«
Ich schluckte.
»Es ist fast fertig.«
Das Gesicht des Patrons erstrahlte in einem Lächeln, dem ich nicht begegnen mochte.
»Das ist wirklich eine gute Nachricht. Wann werde ich es bekommen?«
»In zwei Wochen. Ich muss noch das eine oder andere überarbeiten. Aber das ist nur noch Feinschliff.«
»Können wir ein Datum festlegen?«
»Wenn Sie wollen…«
»Wie wäre es mit Freitag, dem 23. dieses Monats? Würden Sie dann eine Einladung zum Abendessen annehmen, um den Erfolg unseres Unternehmens zu feiern?«
Der 23. war in genau zwei Wochen.
»Einverstanden.«
»Also abgemacht.«
Er hob seine zuckergesättigte Tasse, als wollte er einen Toast ausbringen, und trank sie in einem Schluck aus.
»Und Sie?«, fragte er beiläufig. »Was führt Sie hierher?«
»Ich habe jemanden gesucht.«
»Jemanden, den ich kenne?«
»Nein.«
»Und haben Sie ihn gefunden?«
»Nein.«
Meiner Wortkargheit nachschmeckend, nickte der Patron bedächtig.
»Ich habe den Eindruck, Sie gegen Ihren Willen zurückzuhalten, mein Freund.«
»Ich bin bloß etwas müde, das ist alles.«
»Dann will ich Ihnen nicht länger die Zeit stehlen. Manchmal vergesse ich, dass Ihnen meine Gesellschaft, auch wenn ich die Ihre genieße, vielleicht nicht gleichermaßen angenehm ist.«
Ich lächelte gefügig und nutzte den Augenblick, um aufzustehen. Ich sah mich in seinen Pupillen gespiegelt, eine bleiche, in einem düsteren Schacht gefangene Puppe.
»Passen Sie auf sich auf, Martín. Bitte.«
»Das werde ich.«
Ich verabschiedete mich mit einem Nicken und ging zum Ausgang. Dabei hörte ich, wie er sich ein weiteres Zuckerstück in den Mund führte und zwischen den Zähnen zermahlte.
Auf dem Weg über die Ramblas sah ich, dass das gläserne Vordach des Liceo erleuchtet war und eine lange Reihe Autos auf dem Gehsteig wartete, von einem kleinen Regiment livrierter Fahrer bewacht. Die Plakate kündigten Cosi fan tutte an, und ich fragte mich, ob Vidal sich wohl aufgerafft hatte, seine Burg zu verlassen und herzukommen. Ich spähte zu der Gruppe von Fahrern auf der Promenade hinüber, erblickte bald Pep unter ihnen und winkte ihn herbei.
»Was tun Sie denn hier, Señor Martín?«
»Wo ist sie? Cristina, Señora Vidal. Wo ist sie?«
Der arme Pep rang die Hände.
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Er erklärte mir, dass Vidal sie seit Wochen suche und dass sein Vater, der Patriarch des Clans, sogar mehrere Angehörige der Polizei in Sold genommen habe, um sie aufzuspüren.
»Anfänglich dachte der Herr, sie sei bei Ihnen…«
»Sie hat nicht angerufen und auch keinen Brief geschickt, kein Telegramm…?«
»Nein, Señor Martín. Ich schwöre es Ihnen. Wir sind alle sehr in Sorge, und der Herr, nun… So habe ich ihn noch nie gesehen, seit ich ihn kenne. Heute ist der erste Abend, an dem er ausgeht, seit die Señorita, äh, die Señora ging…«
»Erinnerst du dich, ob Cristina irgendetwas gesagt hat, was auch immer, bevor sie die Villa Helius verlassen hat?«
»Nun…«
Pep senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Man konnte hören, wie sie sich mit dem Herrn gestritten hat. Ich sah, dass sie traurig war. Sie war sehr oft allein. Sie schrieb Briefe und brachte sie jeden Tag zur Post auf dem Paseo de la Reina Elisenda.«
»Hast du irgendwann unter vier Augen mit ihr gesprochen?«
»Eines Tages, kurz bevor sie wegging, hat mich der Herr gebeten, sie mit dem Wagen zum Arzt zu fahren.«
»War sie krank?«
»Sie konnte nicht schlafen. Der Doktor hat ihr Laudanumtropfen verschrieben.«
»Hat sie unterwegs irgendetwas gesagt?«
Pep zuckte die Achseln.
»Sie hat mich nach Ihnen gefragt, ob ich etwas von Ihnen gehört oder Sie gesehen hätte.«
»Nichts weiter?«
»Sie sah sehr traurig aus. Sie hat angefangen zu weinen, und als ich sie fragte, was ihr fehle, sagte sie, sie vermisse ihren Vater so sehr, Señor Manuel…«
Da begriff ich endlich, und ich verwünschte mich, nicht eher darauf gekommen zu sein. Pep schaute mich verwundert an und fragte, warum ich lächele.
»Wissen Sie, wo sie ist?«, fragte er.
»Ich denke schon«, murmelte ich.
In diesem Moment glaubte ich auf der anderen Straßenseite eine mir bekannte Stimme zu hören und einen vertrauten Schatten im Eingang des Liceo zu erkennen. Vidal hatte nicht einmal den ersten Akt durchgehalten. Pep ging auf seinen Herrn zu, und ich verschwand unbemerkt in der Nacht.
Selbst von weitem wirkten sie unverkennbar wie Boten schlechter Nachrichten. Die Glut einer Zigarette im Blau der Nacht, an der schwarzen Hauswand lehnende Silhouetten und die Atemwolken dreier Gestalten, die den Eingang zum Haus mit dem Turm überwachten: Inspektor Víctor Grandes mit seinen beiden Häschern Marcos und Castelo als Empfangskomitee. Unschwer konnte ich mir vorstellen, dass sie mittlerweile Alicia Marlascas Leiche auf dem Grund ihres Schwimmbeckens gefunden hatten und dass ich auf der schwarzen Liste um mehrere Plätze gestiegen war. Sowie ich sie erblickte, blieb ich stehen und verbarg mich in den Schatten der Straße. Ich beobachtete sie einige Augenblicke, um mich zu vergewissern, dass sie meine Anwesenheit in nur fünfzig Meter Entfernung nicht bemerkt hatten.
Im Schimmer der Laterne an der Fassade konnte ich Grandes’ Profil genau ausmachen. Langsam zog ich mich in die Dunkelheit zurück und verschwand in der ersten Gasse und dann im Passagen- und Arkadengewirr des Ribera-Viertels.
Zehn Minuten später war ich am Francia-Bahnhof. Die Schalter waren bereits geschlossen, aber zwischen den Bahnsteigen unter dem hohen Glas- und Stahlgewölbe standen noch mehrere Züge. Dem Fahrplan entnahm ich, dass es, wie befürchtet, bis zum Morgen keine Abfahrten mehr gab. Nach Hause zurückzukehren und Grandes & Co. in die Fänge zu geraten, durfte ich nicht riskieren — irgendetwas sagte mir, dass mein Besuch auf dem Präsidium diesmal auf Vollpension hinausliefe und dass mich nicht einmal Anwalt Valera so leicht wie das vorige Mal wieder herausbrächte.
Ich beschloss, die Nacht in einem einfachen Hotel gegenüber der Börse an der Plaza Palacio zu verbringen, wo der Legende nach die lebendigen Leichen einiger Spekulanten dahinvegetierten, denen ihre Habsucht und Milchmädchenrechnungen zum Verhängnis geworden waren. Dieses Loch wählte ich, weil mich dort vermutlich nicht einmal die Parzen suchen würden. Ich mietete mich unter dem Namen Antonio Miranda ein und bezahlte im Voraus. Der Angestellte, eine Art Weichtier, das zum festen Inventar der als Empfangstisch, Handtuchhalter und Souvenirstand dienenden Loge zu gehören schien, händigte mir den Schlüssel sowie ein Stück nach Lauge stinkender, gebrauchter Seife der Marke El Cid Campeador aus und teilte mir mit, wenn ich Lust auf weibliche Gesellschaft habe, könne er mir ein Dienstmädchen mit dem Spitznamen »die Einäugige« aufs Zimmer schicken, sobald sie von einem Hausbesuch zurück sei.
»Danach werden Sie sich wie neugeboren fühlen«, versicherte er mir.
Ich schützte einen beginnenden Hexenschuss vor und lehnte dankend ab, wünschte ihm eine gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Das Zimmer hatte die Größe und Anmutung eines Sargs. Ein rascher Blick überzeugte mich davon, dass ich mich besser angezogen auf die Pritsche legte, anstatt zwischen die Betttücher zu schlüpfen und mit allem zu fraternisieren, was daran haften mochte. Ich hüllte mich in eine ausgefranste Decke aus dem Schrank, die zwar roch, aber wenigstens nach Naphthalin, löschte das Licht und versuchte mir vorzustellen, ich liege in einer solchen Suite, wie sie jemandem mit hunderttausend Francs auf der Bank gebührt. Ich tat kaum ein Auge zu.
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