»Neulich nachts habe ich geträumt, ich hätte ein Kind«, sagte sie. »Ich träumte, es rufe nach mir, aber ich konnte es nicht hören und nicht zu ihm gehen, weil ich an einem Ort gefangen war, wo es sehr kalt war und ich mich nicht bewegen konnte. Es rief mich, und ich konnte nicht zu ihm.«
»Es war nur ein Traum«, sagte ich.
»Er kam mir sehr wirklich vor.«
»Vielleicht solltest du diese Geschichte aufschreiben.«
Isabella schüttelte den Kopf.
»Ich habe darüber nachgedacht. Und ich habe beschlossen, dass ich das Leben lieber lebe, statt es zu schreiben. Nehmen Sie es mir nicht übel.«
»Das finde ich einen weisen Entschluss.«
»Und Sie? Werden Sie das auch tun?«
»Ich fürchte, ich habe mein Leben schon gelebt.«
»Und diese Frau? Cristina?«
Ich atmete tief durch.
»Sie ist gegangen. Sie ist zu ihrem Mann zurückgekehrt. Noch ein weiser Entschluss.«
Isabella löste sich von mir und schaute mich mit gerunzelter Stirn an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich glaube, Sie irren sich.«
»Worin?«
»Neulich kam Don Gustavo Barceló zu uns, und wir unterhielten uns über Sie. Er sagte, er habe Cristinas Mann gesehen, diesen…«
»Pedro Vidal.«
»Genau. Und der habe gesagt, Cristina sei zu Ihnen gegangen, er habe sie nicht wiedergesehen und seit einem Monat oder noch länger nichts mehr von ihr gehört. Es hat mich wirklich überrascht, sie nicht hier bei Ihnen zu sehen, aber ich habe nicht zu fragen gewagt…«
»Bist du sicher, dass das Barcelós Worte waren?«
Sie nickte.
»Was habe ich denn jetzt wieder gesagt?«, fragte sie beunruhigt.
»Nichts.«
»Da gibt es etwas, was Sie mir nicht erzählen…«
»Cristina ist nicht hier. Sie war nicht mehr hier seit dem Tod von Señor Sempere.«
»Wo ist sie denn dann?«
»Das weiß ich nicht.«
Nach und nach versickerte das Gespräch, wir saßen zusammengekauert im Sessel vor dem Feuer, und tief in der Nacht schlief Isabella ein. Ich legte den Arm um sie und schloss die Augen. In Gedanken versuchte ich dem, was sie erzählt hatte, irgendeinen Sinn abzugewinnen. Als das Morgenlicht über die Verandafenster strich, öffnete ich die Augen und sah, dass Isabella schon wach war und mich anschaute.
»Guten Morgen«, sagte ich.
»Ich habe nachgedacht«, begann sie.
»Und?«
»Ich denke, ich werde den Antrag von Señor Semperes Sohn annehmen.«
»Bist du sicher?«
»Nein«, lachte sie.
»Was werden deine Eltern sagen?«
»Vermutlich wird es ihnen nicht passen, aber sie werden sich schon dran gewöhnen. Natürlich wäre ihnen für mich ein Blut- und Leberwursthändler lieber gewesen als ein Buchhändler, aber sie werden es hinnehmen müssen.«
»Es könnte schlimmer sein, oder?«
Sie nickte.
»Ja. Es hätte auch ein Schriftsteller sein können.«
Wir sahen uns lange an, bis Isabella vom Sessel aufstand. Sie nahm ihren Mantel und knöpfte ihn von mir abgewandt zu.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
»Danke für die Gesellschaft«, antwortete ich.
»Lassen Sie sie nicht entwischen«, sagte Isabella. »Suchen Sie sie, wo sie auch sein mag, und sagen Sie ihr, dass Sie sie lieben, selbst wenn’s gelogen ist. Wir Frauen mögen das.«
Und sie wandte sich um und beugte sich über mich, um mit ihren Lippen die meinen zu streifen. Dann drückte sie mir fest die Hand und ging ohne ein weiteres Wort.
Den Rest dieser Woche verbrachte ich damit, ganz Barcelona nach jemandem zu durchkämmen, der im letzten Monat Cristina gesehen hatte. Ich suchte die Orte auf, wo ich mit ihr gewesen war, und folgte vergeblich Vidals Lieblingsparcours durch Luxuscafés, — restaurants und — geschäfte. Jedem, dem ich begegnete, zeigte ich Cristinas Fotoalbum und fragte ihn nach ihr. Irgendwo stieß ich auf jemanden, der sie erkannte und sich erinnerte, ihr einmal zusammen mit Vidal begegnet zu sein. Ein anderer wusste sogar noch ihren Namen. Aber in den letzten Wochen hatte sie niemand mehr gesehen. Am vierten Tag meiner Suche schwante mir allmählich, dass sie an jenem Morgen, als ich die Fahrkarten kaufen ging, das Haus mit dem Turm in der Absicht verlassen hatte, von der Erdoberfläche zu verschwinden.
Da kam mir in den Sinn, dass die Familie Vidal im Hotel España in der Calle Sant Pau hinter dem Liceo ein Zimmer gemietet hatte, für den Fall, dass ein Familienmitglied nach einer Opernaufführung nicht mehr nach Pedralbes zurückfahren mochte oder konnte. Ich wusste, dass Vidal und sein Herr Vater es zumindest in ihren glorreichen Jahren benutzt hatten, um sich mit Señoritas und Señoras zu vergnügen, deren Anwesenheit in den offiziellen Residenzen in Pedralbes zu unerwünschtem Gerede geführt hätte — wegen ihrer niederen oder ihrer vornehmen Abstammung. Als ich noch in Doña Carmens Pension wohnte, hatte Vidal mir das Zimmer mehr als einmal angeboten, falls ich, wie er sich ausdrückte, Lust hätte, eine Dame an einem Ort auszuziehen, der keine Angst macht. Ich nahm zwar nicht an, dass Cristina gerade dort Zuflucht gesucht hatte, falls sie überhaupt von dem Zimmer wusste, aber es war der letzte Ort auf meiner Liste, sonst fiel mir nichts mehr ein. Es dämmerte schon, als ich ins Hotel España kam und, mich meiner Freundschaft mit Señor Vidal rühmend, den Geschäftsführer zu sprechen begehrte. Als ich ihm die Aufnahme von Cristina zeigte, lächelte er mich höflich an, ein Kavalier von eisiger Diskretion, und sagte, schon vor Wochen seien »andere« Angestellte von Señor Vidal gekommen und hätten sich nach derselben Person erkundigt, und denen habe er dasselbe geantwortet wie mir. Er habe diese Señora hier noch nie gesehen. Ich dankte ihm für seine frostige Liebenswürdigkeit und ging niedergeschlagen in Richtung Ausgang.
Als ich an den großen Scheiben zum Speisesaal vorüberkam, sah ich aus dem Augenwinkel ein vertrautes Gesicht. An einem der Tische saß der Patron, der einzige Gast im ganzen Saal, und tat sich an Zuckerwürfeln gütlich. Ich wollte rasch verschwinden, aber er wandte sich um und winkte mir lächelnd zu. Ich verfluchte mein Schicksal und winkte zurück. Da gab er mir ein Zeichen, ich solle mich zu ihm gesellen. Widerwillig ging ich in den Speisesaal.
»Welch angenehme Überraschung, Sie hier anzutreffen, mein lieber Freund. Soeben habe ich an Sie gedacht«, sagte Corelli.
Lustlos gab ich ihm die Hand.
»Ich dachte, Sie wären nicht in der Stadt«, bemerkte ich.
»Ich bin eher zurückgekommen als vorgesehen. Darf ich Sie zu etwas einladen?«
Ich winkte ab. Er bedeutete mir, mich zu ihm an den Tisch zu setzen, und ich gehorchte. Seinem üblichen Stil treu, trug er einen dreiteiligen Anzug aus schwarzem Wollstoff und eine rote Seidenkrawatte. Untadelig wie immer, doch diesmal stimmte irgendetwas nicht. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich dahinterkam — die Engelsbrosche steckte nicht an seinem Revers. Er folgte meinem Blick und nickte.
»Leider habe ich sie verloren und weiß nicht, wo«, erklärte er.
»Sie war hoffentlich nicht sehr wertvoll.«
»Ihr Wert war rein sentimentaler Natur. Aber reden wir von wichtigeren Dingen. Wie geht es Ihnen, mein Freund? Ich habe unsere Gespräche sehr vermisst, auch wenn wir gelegentlich verschiedener Meinung waren. Gute Gesprächspartner sind schwer zu finden.«
»Sie überschätzen mich, Señor Corelli.«
»Im Gegenteil.«
Ein kurzes Schweigen entstand, begleitet von diesem bodenlosen Blick. Da war es mir bedeutend lieber, wenn er seine banale Unterhaltung fortführte. Sobald er zu sprechen aufhörte, schien sich sein Aussehen zu verändern, und die Luft um ihn herum wurde dick.
»Wohnen Sie hier?«, fragte ich, um das Schweigen zu durchbrechen.
»Nein, ich wohne noch immer in dem Haus am Park Güell. Ich hatte einen Freund für heute Nachmittag herbestellt, aber offenbar verspätet er sich. Die Unzuverlässigkeit gewisser Leute ist bedauerlich.«
Читать дальше