»Erklären Sie mir eines: Geht es Ihnen um den Glauben oder um das Dogma?«
»Es darf uns nicht genügen, dass die Menschen glauben. Sie sollen glauben, was sie glauben sollen. Und sie sollen das weder infrage stellen noch auf die Stimme von irgendjemandem hören, der es infrage stellt. Das Dogma muss zur Identität selbst gehören. Wer immer es infrage stellt, ist unser Feind. Ist das Böse. Und wir haben das Recht und die Pflicht, ihm gegenüberzutreten und ihn zu zerstören. Das ist der einzige Weg zur Erlösung. Glauben, um zu überleben.«
Ich seufzte, schaute weg und nickte widerwillig.
»Ich sehe, Sie sind nicht überzeugt, Martín. Sagen Sie mir, was Sie denken. Glauben Sie, ich irre mich?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, das alles ist eine gefährliche Vereinfachung. Ihre ganze Rede scheint auf einen Mechanismus hinauszulaufen, mit dem sich Hass erzeugen und lenken lässt.«
»Das Adjektiv, das Sie gebrauchen wollten, war nicht gefährlic h, sondern widerwärtig , aber ich will es überhört haben.«
»Warum sollen wir den Glauben auf einen Akt der Abwehr und des blinden Gehorsams reduzieren? Kann man nicht an Werte der Annahme, der Eintracht glauben?«
Der Patron lächelte amüsiert.
»Man kann an alles glauben, Martín, an den freien Markt oder an die Zahnfee. Man kann sogar glauben, dass wir an nichts glauben, so wie Sie, dazu muss man nur besonders leichtgläubig sein. Habe ich recht?«
»Der Kunde hat immer recht. Welches ist die Lücke, die Sie in der Geschichte sehen?«
»Ich vermisse einen Schurken. Die meisten von uns definieren sich bewusst oder unbewusst eher darüber, dass sie etwas oder jemanden ablehnen, als dass sie sich mit etwas oder jemandem identifizieren. Mit anderen Worten: Reagieren ist einfacher als agieren. Nichts belebt den Glauben, den Eifer und das Dogma so sehr wie ein guter Widersacher. Je unwahrscheinlicher, desto besser.«
»Ich hatte gedacht, das funktioniere besser auf abstrakte Weise. Der Widersacher wäre der Ungläubige, der Fremde, der außerhalb der Gemeinschaft steht.«
»Schon, aber ich möchte, dass Sie konkreter werden. Es ist schwierig, eine Idee zu hassen. Das erfordert eine gewisse intellektuelle Disziplin und einen obsessiven, krankhaften Geist, der nicht allzu oft anzutreffen ist. Es ist viel einfacher, jemanden mit einem erkennbaren Gesicht zu hassen, dem man an allem, was einem nicht passt, die Schuld in die Schuhe schieben kann. Es muss nicht unbedingt eine Person sein. Es kann auch eine Nation, eine Rasse, eine Gruppe sein, irgendetwas.«
Gegen den präzisen, gelassenen Zynismus des Patrons konnte selbst ich nichts ausrichten. Ich schnaubte niedergeschlagen.
»Spielen Sie jetzt nicht den Musterschüler, Martín. Ihnen ist es egal, und wir brauchen einen Schurken in diesem Vaudeville. Das sollten Sie besser wissen als jeder andere. Es gibt kein Drama ohne Konflikt.«
»Was für einen Schurken möchten Sie denn? Einen tyrannischen Eroberer? Einen falschen Propheten? Den schwarzen Mann?«
»Die Verkleidung überlasse ich Ihnen. Jeder der üblichen Verdächtigen ist mir recht. Unser Schurke soll es uns ermöglichen, die Opferrolle anzunehmen und unsere moralische Überlegenheit einzufordern. Wir werden all das in ihm sehen, was wir in uns selbst nicht zu erkennen vermögen und je nach unseren besonderen Interessen dämonisieren. Das ist das Einmaleins des Pharisäertums. Ich sage ja, Sie sollen die Bibel lesen. Darin finden sich alle Antworten, die Sie suchen.«
»Ich bin dabei.«
»Man braucht nur den Frömmler davon zu überzeugen, dass er frei von Sünde ist, und schon fängt er begeistert an, Steine oder Bomben zu werfen. Tatsächlich ist kein großer Aufwand erforderlich, es braucht nur etwas Ermutigung und ein Alibi, dann überzeugt er sich selbst. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«
»Sie drücken sich hervorragend aus. Ihre Argumente sind so subtil wie der Hochofen in einer Eisenhütte.«
»Ich glaube, mir gefällt dieser herablassende Ton nicht ganz, Martín. Finden Sie vielleicht, das alles sei nicht ganz auf der Höhe Ihrer moralischen oder intellektuellen Reinheit?«
»Überhaupt nicht«, murmelte ich kleinlaut.
»Was liegt Ihnen denn sonst auf der Seele, mein Freund?«
»Dasselbe wie immer. Ich bin nicht sicher, ob ich der Nihilist bin, den Sie benötigen.«
»Das ist niemand. Nihilismus ist eine Pose, keine Doktrin. Halten Sie einem Nihilisten eine Kerzenflamme unter die Hoden, und Sie werden sehen, wie schnell er das Licht des Lebens sieht. Was Sie stört, ist etwas anderes.«
Ich schaute ihm direkt in die Augen und gewann meinen herausforderndsten Ton zurück.
»Vielleicht stört mich, dass ich zwar alles verstehe, was Sie sagen, dass ich es aber nicht fühle.«
»Bezahle ich Sie dafür, dass Sie fühlen?«
»Manchmal ist Fühlen und Denken dasselbe. Der Gedanke ist von Ihnen, nicht von mir.«
Der Patron lächelte in einer seiner dramatischen Pausen, wie ein Schullehrer, der den tödlichen Stoß vorbereitet, um einen ungezogenen, widerspenstigen Schüler zum Schweigen zu bringen.
»Und was fühlen Sie, Martín?«
Die Ironie und Verachtung in seiner Stimme ermutigten mich, und ich öffnete dem in seinem Schatten über Monate angehäuften Gefühl der Erniedrigung die Schleusen. Ich spürte Wut und Scham darüber, dass ich mich von seiner Gegenwart einschüchtern ließ und seine vergifteten Abhandlungen duldete. Wut und Scham darüber, dass er mir, obwohl ich glauben wollte, in mir gebe es nichts als Verzweiflung, gezeigt hatte, dass meine Seele genauso schäbig und elend war wie seine Gossenphilosophie. Wut und Scham, weil ich spürte und wusste, dass er in allem recht hatte, besonders dann, wenn es am schwersten zu akzeptieren war.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Martín. Was fühlen Sie?«
»Ich habe das Gefühl, dass ich die Dinge am besten so belasse, wie sie sind, und Ihnen Ihr Geld zurückgebe. Ich habe das Gefühl, dass ich, was immer Sie mit diesem absurden Unterfangen erreichen wollen, lieber keinen Anteil daran haben möchte. Und vor allem habe ich das Gefühl, ich hätte Sie besser nie kennengelernt.«
Der Patron schloss die Augen und versank in ein langes Schweigen. Er wendete sich um und ging einige Schritte in Richtung Friedhofstor. Ich beobachtete seine sich vor dem Marmorgarten abzeichnende dunkle Gestalt, seinen reglosen Schatten im Regen. Ich hatte Angst, eine undeutliche Angst, die in mir wuchs und mir den kindlichen Gedanken eingab, um Verzeihung zu bitten und jede beliebige Strafe zu akzeptieren, wenn ich nur dieses Schweigen nicht mehr ertragen musste. Und ich verspürte Ekel. Vor seiner Gegenwart und vor allem vor mir selbst.
Der Patron drehte sich um und kam zurück. Wenige Zentimeter von mir blieb er stehen und beugte sein Gesicht über meines. Ich spürte seinen kalten Atem und verlor mich in seinen bodenlosen schwarzen Augen. Diesmal war der Ton seiner Stimme reines Eis, frei von der zweckmäßigen, einstudierten Menschlichkeit, mit der er seine Gespräche und Gebärden zu garnieren pflegte.
»Ich werde es Ihnen nur ein einziges Mal sagen. Sie werden Ihren Teil erfüllen und ich den meinen. Das ist das Einzige, was Sie fühlen können und sollen.«
Erst als er das Bündel Seiten aus der Tasche zog, wurde mir bewusst, dass ich wiederholt nickte. Bevor ich die Seiten ergreifen konnte, ließ er sie fallen. Der Wind wirbelte die Blätter weg, und ich sah, wie sie sich zum Friedhofstor hin zerstreuten. Ich wollte sie vor dem Regen retten, aber einige waren in Pfützen gefallen und bluteten im Wasser aus — die Worte lösten sich vom Papier wie Fasern. Ich sammelte sie alle zu einem Klumpen Makulatur ein. Als ich aufschaute und mich umblickte, war der Patron verschwunden.
Wenn ich je bei einem vertrauten Gesicht Zuflucht finden musste, dann jetzt. Ich ging zu dem alten, sich hinter den Friedhofsmauern erhebenden Gebäude der Stimme der Industrie , in der Hoffnung, meinen alten Lehrer Don Basilio dort anzutreffen. Er war einer der wenigen gegen die Dummheit der Welt gefeiten Menschen und konnte immer mit einem guten Rat aufwarten. Beim Betreten des Zeitungsgebäudes fiel mir auf, dass ich die meisten der Beschäftigten, die mir begegneten, noch kannte. Seit meinem Weggang vor Jahren schien keine Minute vergangen zu sein. Diejenigen, die mich ebenfalls wiedererkannten, streiften mich mit einem argwöhnischen Blick und schauten dann weg, um mich nicht grüßen zu müssen. Ich schlich mich durch den Redaktionsraum und ging geradewegs nach hinten zu Don Basilios Büro. Es war leer.
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