Ich verließ das Haus Marlasca mit zitternden Knien und irrte ziellos durch das Labyrinth einsamer Straßen in Richtung Pedralbes. Der Himmel war überzogen von einem Gespinst grauer Wolken, die kaum die Sonne durchließen. Ab und zu durchbohrten Nadeln von Licht diese tote Fläche und zogen über die Bergflanke hinweg. Ich folgte diesen hellen Streifen mit den Augen und sah, wie sie in der Ferne über das emaillierte Dach der Villa Helius strichen. Die Fenster glänzten bis zu mir hinüber. Gegen alle Vernunft machte ich mich auf den Weg dorthin. Je näher ich dem Haus kam, desto dunkler wurde der Himmel, und ein schneidender Wind wirbelte Laubspiralen auf. Als ich zur Kreuzung mit der Calle Panamá kam, blieb ich stehen. Gegenüber erhob sich die Villa Helius. Ich wagte nicht, die Straße zu überqueren und mich der Gartenmauer zu nähern. Unfähig, zu fliehen oder zur Tür zu gehen, um zu klingeln, blieb ich Gott weiß wie lange so stehen. Da sah ich sie an einem der Fenster des zweiten Stocks vorbeigehen. Eiseskälte durchfuhr mich. Als ich mich zurückziehen wollte, wandte sie sich um und blieb stehen. Sie trat an die Scheibe, und ich konnte ihre Augen auf meinen spüren. Wie zum Gruß hob sie die Hand, ohne aber die Finger zu spreizen. Ich hatte nicht den Mut, ihrem Blick standzuhalten, machte kehrt und ging die Straße hinunter. Meine Hände zitterten, und ich steckte sie in die Tasche, damit sie mich nicht in diesem Zustand sähe. Bevor ich um die Ecke bog, blickte ich noch einmal zurück und sah sie noch immer dort stehen und mir hinterherschauen. Um sie zu hassen, fehlte mir die Kraft.
Zuhause angekommen, spürte ich in meinen Knochen die Kälte oder was ich dafür hielt. Aus dem Briefkasten ragte ein Umschlag. Pergament und Siegellack. Nachrichten vom Patron. Ich öffnete den Brief, während ich mich die Treppe hinaufschleppte. Seine adrette Schrift bestellte mich für den nächsten Tag ein. Die Wohnungstür stand halb offen, und lächelnd erwartete mich Isabella.
»Ich war im Arbeitszimmer und habe Sie kommen sehen«, sagte sie.
Ich versuchte, ihr zuzulächeln, was anscheinend nicht sehr überzeugend wirkte. Sowie sie mir in die Augen blickte, wurde ihr Gesicht sorgenvoll.
»Geht es Ihnen gut?«
»Es ist nichts. Ich glaube, ich habe mich ein wenig erkältet.«
»Ich habe eine Brühe auf dem Feuer, die wird Wunder wirken. Kommen Sie herein.«
Sie hakte mich unter und führte mich in die Veranda.
»Isabella, ich bin kein Invalide.«
Sie ließ mich los und senkte den Blick.
»Entschuldigen Sie.«
Ich war nicht imstande, mich mit jemandem anzulegen, und schon gar nicht mit meiner hartnäckigen Assistentin, sodass ich mich zu einem der Sessel in der Veranda geleiten ließ, in den ich wie ein Sack Knochen fiel. Isabella setzte sich mir gegenüber und schaute mich besorgt an.
»Was ist geschehen?«
Ich lächelte beruhigend.
»Nichts. Nichts ist geschehen. Wolltest du mir nicht eine Tasse Brühe bringen?«
»Sofort.«
Sie schoss in die Küche, wo ich sie herumfuhrwerken hörte. Ich atmete tief durch und schloss die Augen, bis sich ihre Schritte wieder näherten.
Sie reichte mir eine dampfende Tasse ungewöhnlicher Größe.
»Sieht aus wie ein Nachttopf«, sagte ich.
»Trinken Sie und sparen Sie sich die Grobheiten.«
Ich schnupperte an der Brühe. Sie roch gut, aber ich mochte mich nicht allzu nachgiebig zeigen.
»Riecht seltsam«, sagte ich. »Was ist drin?«
»Sie riecht nach Hähnchen, weil Hähnchen drin ist, dazu Salz und ein Schuss Sherry. Trinken Sie.«
Ich trank einen Schluck und gab ihr die Tasse zurück. Sie schüttelte den Kopf, »Alles.«
Ich seufzte und trank noch einen Schluck. Zu meinem Leidwesen schmeckte sie gut.
»Wie war also Ihr Tag?«
»Nicht allzu schlecht. Und wie ist es dir ergangen?«
»Sie stehen vor der neuen Starverkäuferin von Sempere und Söhne.«
»Ausgezeichnet.«
»Noch vor fünf Uhr hatte ich schon zwei Exemplare von Das Bildnis des Dorian Gray und einem sehr distinguierten Herrn aus Madrid die gesammelten Werke von Pirandello verkauft, und er hat mir ein Trinkgeld gegeben. Machen Sie nicht so ein Gesicht — auch das habe ich in die Kasse getan.«
»Und Sempere junior, was hat er gesagt?«
»Gesagt hat er gar nichts. Er hat die ganze Zeit Maulaffen feilgehalten und so getan, als sähe er mich nicht, aber er hat mich keinen Moment aus den Augen gelassen. Ich kann mich schon gar nicht mehr hinsetzen, so sehr hat er mir auf den Hintern gestarrt, immer wenn ich auf die Leiter gestiegen bin, um ein Buch runterzuholen. Zufrieden?«
Ich nickte lächelnd.
»Danke, Isabella.«
Sie schaute mir fest in die Augen.
»Sagen Sie das noch einmal.«
»Danke, Isabella. Von ganzem Herzen.«
Sie errötete und schaute weg. Eine Weile blieben wir in friedlicher Stille sitzen und genossen diese Art Freundschaft, die manchmal keiner Worte bedarf. Ich trank die ganze Brühe aus, obwohl ich kaum noch etwas hinunterbrachte, und zeigte ihr die leere Tasse. Sie nickte.
»Sie haben sie besucht, nicht wahr? Diese Frau, Cristina«, sagte sie und wich meinem Blick aus.
»Isabella, die Gesichterleserin…«
»Sagen Sie die Wahrheit.«
»Ich habe sie nur von weitem gesehen.«
Sie blickte mich vorsichtig an, als kämpfte sie mit sich, ob sie mir etwas, was ihr auf der Seele lag, sagen sollte oder nicht.
»Lieben Sie sie?«, fragte sie schließlich.
Wir schauten uns schweigend an.
»Ich kann niemanden lieben, das weißt du doch. Ich bin ein Egoist. Reden wir von was anderem.«
Sie nickte, den Blick auf dem Umschlag, der aus meiner Jacketttasche herauslugte.
»Nachrichten vom Patron?«
»Die Einberufung des Monats. Seine Exzellenz Señor Andreas Corelli freut sich, mich morgen früh um sieben vor die Tore des Friedhofs von Pueblo Nuevo zu bestellen. Einen besseren Ort hätte er nicht aussuchen können.«
»Und werden Sie hingehen?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Sie können noch diesen Abend einen Zug nehmen und für immer verschwinden.«
»Du bist schon die Zweite, die mir das heute nahelegt. Von hier zu verschwinden.«
»Das muss ja einen Grund haben.«
»Und wer wird dann dein Lehrmeister und Mentor sein und dich durch die Fährnisse der Literatur geleiten?«
»Ich geh mit Ihnen.«
Ich lächelte und ergriff ihre Hand.
»Mit dir bis ans Ende der Welt, Isabella.«
Sie entriss mir ihre Hand und schaute mich verletzt an.
»Sie lachen mich aus.«
»Isabella, sollte es mir eines Tages einfallen, dich auszulachen, dann jage ich mir eine Kugel durch den Kopf.«
»Sagen Sie das nicht. Ich mag es nicht, wenn Sie so sprechen.«
»Entschuldige.«
Sie ging an ihren Schreibtisch zurück und verfiel in langes Schweigen. Ich sah, wie sie die Seiten des Tages überflog und mit einer meiner Schreibfedern Korrekturen anbrachte und ganze Absätze strich.
»Wenn Sie mir zuschauen, kann ich mich nicht konzentrieren.«
Ich stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
»Dann lasse ich dich weiterarbeiten, und nach dem Abendessen zeigst du mir, was du hast.«
»Es ist noch nicht fertig. Ich muss alles korrigieren und neu schreiben und…«
»Es ist nie fertig, Isabella. Daran musst du dich langsam gewöhnen. Nach dem Essen schauen wir es uns zusammen an.«
»Morgen.«
Ich ergab mich.
»Morgen.«
Sie nickte. Ich wollte schon die Verandatür schließen, um sie mit ihren Worten allein zu lassen, als sie mich rief.
»David?«
Schweigend blieb ich im Gang stehen.
»Es stimmt nicht. Es stimmt nicht, dass Sie niemanden lieben können.«
Ich zog mich in mein Zimmer zurück und machte die Tür zu. Auf dem Bett drehte ich mich zusammengekrümmt zur Wand und schloss die Augen.
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