»Ist da jemand?«, rief ich.
Da die Antwort abermals ausblieb, ging ich zur Terrassentür und spähte aufs Dach hinaus. Der Dschungel von Giebeln, Dachterrassen, Türmen, Wassertanks, Blitzableitern und Schornsteinen wucherte nach allen Seiten. Ich hatte noch keinen Schritt hinaus getan, als ich ein kaltes Metallteil im Nacken spürte und das eiserne Klacken eines Revolverhahns hörte, der gespannt wurde. Mir fiel nichts anderes ein, als ohne mit der Wimper zu zucken die Hände zu heben.
»Mein Name ist David Martín. Man hat mir Ihre Adresse im Präsidium gegeben. Ich wollte mit Ihnen über einen Fall sprechen, den Sie geleitet haben, als Sie noch im Dienst waren.«
»Gehen Sie immer in Wohnungen anderer Leute, ohne vorher anzuklopfen, Señor Martín?«
»Die Tür war offen. Ich habe angeklopft, aber anscheinend haben Sie mich nicht gehört. Darf ich die Hände runternehmen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie sie hochnehmen sollen. Was für ein Fall?«
»Der Tod von Diego Marlasca. Ich bin der Mieter seiner letzten Wohnung. Des Hauses mit dem Turm in der Calle Flassaders.«
Er blieb stumm. Der Druck des Revolvers hielt an.
»Señor Salvador?«, fragte ich.
»Ich überlege eben, ob ich Ihnen nicht am besten gleich das Hirn wegblase.«
»Wollen Sie nicht vorher meine Geschichte hören?«
Er lockerte den Druck des Revolvers. Ich hörte, wie der Hahn entspannt wurde, und drehte mich in Zeitlupe um. Ricardo Salvador war von imponierender Gestalt und hatte graue Haare und hellblaue, durchdringende Augen. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig, aber selbst ein halb so alter Mann hätte schwerlich gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Salvador senkte den Revolver, kehrte mir den Rücken und ging in die Wohnung zurück.
»Entschuldigen Sie diesen Empfang«, murmelte er.
Ich folgte ihm zu der winzigen Küche und blieb auf der Schwelle stehen. Er legte den Revolver auf den Spülstein und brachte mit Papier und Karton die eine Herdflamme zum Brennen. Mit einem Glas Kaffeepulver in der Hand schaute er mich fragend an.
»Nein, danke.«
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es das einzig Gute ist, was ich habe«, sagte er.
»Dann leiste ich Ihnen Gesellschaft.«
Salvador gab zwei gehäufte Löffel Kaffee in die Espressomaschine, füllte sie mit Wasser aus einem Krug und setzte sie aufs Feuer.
»Wer hat Ihnen von mir erzählt?«
»Vor einigen Tagen habe ich Señora Marlasca besucht, die Witwe. Sie hat von Ihnen gesprochen und gesagt, Sie seien der Einzige, der versucht habe, die Wahrheit herauszufinden, und das habe Sie die Stelle gekostet.«
»So könnte man es wohl sagen.«
Ich bemerkte, dass die Erwähnung der Witwe seinen Blick getrübt hatte, und fragte mich, was sich in diesen unglücklichen Tagen zwischen den beiden ereignet haben mochte.
»Wie geht es ihr?«, fragte er.
»Ich glaube, sie vermisst Sie.«
Salvador nickte. Seine Wildheit war völlig verschwunden.
»Ich habe sie schon lange nicht mehr besucht.«
»Sie glaubt, Sie geben ihr die Schuld an dem, was Ihnen widerfahren ist. Ich denke, sie würde Sie gern Wiedersehen, obwohl es schon so lange her ist.«
»Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sollte ich sie besuchen…«
»Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?«
Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er nickte.
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Marlascas Witwe hat mir gesagt, Sie hätten nie an die Version geglaubt, dass ihr Mann sich das Leben genommen habe, und hätten einen Verdacht gehegt.«
»Mehr als nur einen Verdacht. Hat Ihnen jemand gesagt, wie Marlasca ums Leben gekommen ist?«
»Ich weiß nur, dass es ein Unfall gewesen sein soll.«
»Marlasca ertrank. So stand es jedenfalls im Schlussbericht der Polizei.«
»Wie ist er ertrunken?«
»Es gibt nur eine Art zu ertrinken, aber darauf komme ich später zurück. Das Merkwürdige ist, wo.«
»Im Meer?«
Salvador lächelte. Sein Lächeln war so bitter und schwarz wie der Kaffee, der in der Kanne hochstieg. Salvador schnupperte.
»Sind Sie sicher, dass Sie diese Geschichte hören wollen?«
»In meinem ganzen Leben bin ich mir einer Sache nie so sicher gewesen.«
Er gab mir eine Tasse und musterte mich von oben bis unten.
»Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Scheißkerl von Valera schon aufgesucht haben.«
»Wenn Sie Marlascas Partner meinen, der ist tot. Gesprochen habe ich mit seinem Sohn.«
»Ebenfalls ein Scheißkerl, aber mit weniger Schneid. Ich weiß ja nicht, was er Ihnen erzählt hat, aber sicher hat er Ihnen verschwiegen, dass sie es gemeinsam bewirkt hatten, dass man mich aus dem Dienst ausschloss und zu einem Paria machte, dem keiner ein Almosen gab.«
»Ich fürchte tatsächlich, das hat er in seine Darstellung der Ereignisse nicht mit einbezogen«, gab ich zu.
»Erstaunt mich nicht.«
»Sie wollten mir sagen, wie Marlasca ertrank.«
»Genau da wird es interessant«, sagte Salvador. »Wussten Sie, dass Señor Marlasca nicht nur Anwalt, Gelehrter und Schriftsteller war, sondern als junger Mann auch zweimal die weihnächtliche Hafenüberquerung, die der Schwimmklub Barcelona organisiert, gewonnen hat?«
»Wie kann ein Schwimmchampion ertrinken?«, fragte ich.
»Es kommt eben darauf an, wo. Señor Marlascas Leiche wurde im Becken auf dem Dach des Wasserspeichers am Ciudadela-Park gefunden. Kennen Sie diesen Ort?«
Ich nickte mit einem Kloß im Hals. Der Ort, wo ich mich zum ersten Mal mit Corelli getroffen hatte.
»Wenn Sie ihn kennen, wissen Sie auch, dass das volle Becken kaum einen Meter tief, also eigentlich eine Pfütze ist. An dem Tag, an dem der Anwalt tot aufgefunden wurde, war der Teich halb leer, der Wasserspiegel erreichte kaum sechzig Zentimeter.«
»Ein Schwimmchampion ertrinkt nicht mir nichts, dir nichts in sechzig Zentimeter tiefem Wasser.«
»Das habe ich mir auch gesagt.«
»Gab es noch andere Meinungen?«
Salvador lächelte bitter.
»Zunächst ist schon fraglich, ob er überhaupt ertrunken ist. Der Gerichtsarzt, der die Autopsie der Leiche durchführte, fand ein wenig Wasser in der Lunge, aber sein Gutachten besagte, dass der Tod durch Herzstillstand eingetreten sei.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Als Marlasca ins Wasser fiel — oder als ihn jemand hineinstieß —, stand er in Flammen. Die Leiche zeigte an Oberkörper, Armen und Gesicht Verbrennungen dritten Grades. Laut Gerichtsmediziner dürfte der Körper gut eine Minute gebrannt haben, bevor er mit dem Wasser in Berührung kam. Im Gewebe von Marlascas Kleidern fanden sich Reste irgendeines Lösungsmittels. Er ist bei lebendigem Leib verbrannt worden.«
Ich brauchte eine Weile, um all das zu verdauen.
»Warum sollte jemand so was tun?«
»Eine Abrechnung? Pure Grausamkeit? Wählen Sie selber. Meiner Meinung nach wollte jemand die Identifizierung von Marlascas Leiche hinauszögern, um Zeit zu gewinnen und die Polizei in die Irre zu führen.«
»Wer denn?«
»Jaco Corbera.«
»Der Impresario von Irene Sabino.«
»Der am Tag von Marlascas Tod verschwunden ist mit der Einlage eines Privatkontos von Anwalt Marlasca bei der Bank Hispano Colonial, von dem seine Frau nichts wusste.«
»Hunderttausend französische Francs«, sagte ich.
Salvador schaute mich verdutzt an.
»Woher wissen Sie das?«
»Tut nichts zur Sache. Was hatte Marlasca auf dem Dach des Wasserspeichers verloren? Der liegt ja nicht eben am Weg.«
»Das ist ein weiterer ungeklärter Punkt. In Marlascas Arbeitszimmer haben wir ein Notizbuch gefunden, in dem er ein Treffen an diesem Ort eingetragen hatte, um fünf Uhr nachmittags. So sah es wenigstens aus — im Notizbuch waren nur eine Uhrzeit, ein Ort und eine Initiale vermerkt. Ein C. Wahrscheinlich Corbera.«
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