»Ich könnte Ihnen auch nicht mehr sagen als das, was seinerzeit schon erzählt worden ist«, sagte er mehr zu sich selbst.
Er warf einen kurzen Blick auf das Porträt seines Vaters und schaute dann mich an.
»Diego Marlasca war der Partner und beste Freund meines Vaters. Sie haben zusammen diese Kanzlei gegründet. Señor Marlasca war ein überaus brillanter Mann. Leider war er auch ein komplizierter Mensch, der immer wieder in lange Phasen der Melancholie verfiel. Es kam ein Punkt, an dem mein Vater und Señor Marlasca beschlossen, ihre Verbindung aufzulösen. Señor Marlasca hängte den Anwaltsberuf an den Nagel, um sich seiner ersten Berufung zu widmen, dem Schreiben. Insgeheim sollen ja fast alle Anwälte den Wunsch verspüren, ihre Tätigkeit aufzugeben und Schriftsteller zu werden…«
»… bis sie das Einkommen vergleichen.«
»Jedenfalls hat Don Diego mit einer damals ziemlich populären Schauspielerin eine freundschaftliche Beziehung geknüpft, Irene Sabino, für die er eine Komödie schreiben wollte. Mehr war da nicht. Señor Marlasca war ein Kavalier und seiner Gattin niemals untreu, aber Sie wissen ja, wie die Leute sind. Geschwätz, Gerüchte und Eifersüchteleien. Man munkelte — was nicht stimmte —, Don Diego habe eine heimliche Romanze mit Irene Sabino unterhalten. Seine Frau verzieh ihm das nie, und die Ehe wurde geschieden. Señor Marlasca, am Boden zerstört, erwarb das Haus mit dem Turm und zog dort ein. Leider lebte er kaum ein Jahr darin, bis er bei einem Unfall ums Leben kam.«
»Bei was für einem Unfall?«
»Er ertrank. Eine Tragödie.«
Er hatte die Augen gesenkt und atmete schwer.
»Und der Skandal?«
»Sagen wir, es gab Lästerzungen, die verbreiteten, Señor Marlasca habe nach einer amourösen Enttäuschung mit Irene Sabino Hand an sich gelegt.«
»Und war dem so?«
Valera nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Man soll die Vergangenheit ruhen lassen.«
»Und was ist aus Irene Sabino geworden?«
Er setzte die Brille wieder auf.
»Ich dachte, Ihr Interesse beschränke sich auf Señor Marlasca und die Aspekte des Kaufes.«
»Ja, aber unter Señor Marlascas persönlichen Dingen fand ich auch zahlreiche Aufnahmen von Irene Sabino sowie Briefe, die sie an ihn geschrieben hatte…«
»Worauf wollen Sie mit alledem hinaus?«, stieß Valera hervor. »Wollen Sie etwa Geld?«
»Nein.«
»Das freut mich, niemand wird Ihnen nämlich welches geben. Niemand interessiert sich mehr für diese Geschichte. Verstehen Sie mich?«
»Vollkommen, Señor Valera. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten oder unangebrachte Andeutungen machen. Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinen Fragen verletzt habe.«
Er lächelte und ließ einen artigen Seufzer hören, als wäre das Gespräch für ihn beendet.
»Nein, es ist schon gut. Ich bitte Sie meinerseits um Entschuldigung.«
Die versöhnliche Stimmung des Anwalts nutzend, setzte ich meine sanfteste Miene auf.
»Vielleicht könnte Doña Alicia Marlasca, seine Witwe…«
Valera schrumpfte in seinem Sessel zusammen, er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
»Señor Martín, Sie dürfen mich nicht missverstehen, aber es gehört zu meiner Pflicht als Anwalt der Familie, deren Privatsphäre zu wahren. Aus naheliegenden Gründen. Es ist viel Zeit vergangen, und ich möchte nicht, dass alte Wunden jetzt wieder aufreißen, das würde nirgends hinführen.«
»Ich verstehe.«
Er schaute mich angespannt an.
»Und Sie sagen, Sie haben ein Buch gefunden?«, fragte er.
»Ja — ein Manuskript. Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung.«
»Wahrscheinlich nicht. Wovon handelt es denn?«
»Theologie, würde ich sagen.«
Valera nickte.
»Überrascht Sie das?«, fragte ich.
»Nein, im Gegenteil. Don Diego war eine Autorität auf dem Gebiet der Religionsgeschichte. Ein weiser Mann. In diesem Haus wird seiner immer noch mit großer Zuneigung gedacht. Sagen Sie, zu welchen konkreten Aspekten des Kaufs wollten Sie denn etwas erfahren?«
»Ich glaube, Sie haben mir schon sehr geholfen, Señor Valera. Ich möchte Ihnen nicht noch mehr Zeit stehlen.«
Er nickte erleichtert.
»Sie interessiert das Haus, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja, ein merkwürdiger Ort«, pflichtete ich ihm bei.
»Ich kann mich erinnern, als junger Mann einmal dort gewesen zu sein, kurz nachdem Don Diego es gekauft hatte.«
»Wissen Sie, warum er es gekauft hat?«
»Er sagte, er sei seit seiner Jugend fasziniert davon gewesen und habe immer gedacht, er würde gern dort wohnen. Das war ganz Don Diego. Manchmal war er wie ein kleiner Junge, der für eine schlichte Illusion alles hergeben konnte.«
Ich sagte nichts.
»Geht es Ihnen gut?«
»Ausgezeichnet. Wissen Sie etwas über den Besitzer, dem Señor Marlasca es abgekauft hat? Einen gewissen Bernabe Massot?«
»Einer von denen, die in Südamerika reich geworden und dann wieder heimgekehrt sind. Er war nie länger als eine Stunde im Haus. Er hatte es nach seiner Rückkehr aus Kuba gekauft und ließ es dann jahrelang leerstehen. Warum, hat er nie gesagt. Er lebte in einem großen Haus, das er sich in Arenys de Mar hatte bauen lassen. Dann verkaufte er das Haus mit dem Turm für einen Pappenstiel — er wollte nichts mehr davon wissen.«
»Und vor ihm?«
»Ich glaube, da wohnte ein Geistlicher darin. Ein Jesuit. Ich bin nicht sicher. Mein Vater hat Don Diegos Geschäfte geführt und bei dessen Tod sämtliche Archive vernichtet.«
»Warum hat er das wohl getan?«
»Aus den genannten Gründen. Um Gerüchten vorzubeugen und das Andenken seines Freundes zu wahren, vermute ich. Aber gesagt hat er es mir nie. Mein Vater war kein Mann, der seine Schritte erklärt hätte. Er wird seine Gründe gehabt haben. Zweifellos gute Gründe. Don Diego war sein bester Freund, nicht nur sein Teilhaber, und all das war sehr schmerzhaft für ihn.«
»Was wurde aus dem Jesuiten?«
»Ich glaube, er bekam disziplinarische Probleme mit dem Orden. Er war ein Freund von Mosén Cinto Verdaguer, und ich glaube, er war in einige seiner Probleme mit verwickelt.«
»Exorzismus?«
»Geschwätz.«
»Wie kann sich ein aus dem Orden verstoßener Jesuit ein solches Haus leisten?«
Valera zuckte wieder die Schultern, und ich vermutete, am Boden des Fasses angelangt zu sein.
»Ich würde Ihnen gern noch weiter helfen, Señor Martín, aber ich weiß nicht, wie. Glauben Sie mir.«
»Danke für Ihre Zeit, Señor Valera.«
Der Anwalt nickte und drückte auf einen Knopf auf dem Schreibtisch. Die Sekretärin erschien in der Tür. Valera reichte mir die Hand.
»Señor Martín möchte gehen. Begleiten Sie ihn, Margarita.«
Sie nickte und führte mich hinaus. Bevor ich das Büro verließ, wandte ich mich noch einmal um und sah, dass der Anwalt niedergeschlagen unter dem Bild seines Vaters zusammengesunken war. Ich folgte Margarita zur Tür, und gerade als sie sie hinter mir schließen wollte, drehte ich mich um und fragte mit meinem unschuldigsten Lächeln: »Verzeihen Sie, Anwalt Valera hat mir vorhin Señora Marlascas Adresse genannt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich die Hausnummer richtig in Erinnerung habe…«
Margarita seufzte, begierig, mich loszuwerden.
»13. Carretera de Vallvidrera 13.«
»Ach ja, natürlich.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Margarita.
Bevor ich ihren Abschiedsgruß erwidern konnte, schloss sich die Tür so würdevoll und unwiderruflich wie ein heiliges Grab.
Als ich zum Haus mit dem Turm zurückkam, erblickte ich plötzlich das, was mir für schon so lange Zeit Zuhause und Gefängnis war, mit anderen Augen. Schon im Eingang hatte ich das Gefühl, den Schlund eines steinernen Schattenwesens zu durchschreiten. Wie durch dessen Eingeweide stieg ich die Treppe hinauf. Als ich im ersten Stock die Wohnungstür öffnete und in den langen, düsteren Korridor trat, der sich im Halbdunkel verlor, fühlte ich mich erstmals wie im Vorzimmer eines argwöhnischen, vergifteten Geistes. Am anderen Ende zeichnete sich im scharlachroten, von der Veranda her einfallenden Licht der Abenddämmerung Isabella ab, die mir entgegenkam. Ich schloss die Tür und knipste die Lampe an.
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