»Das Einzige, was einfach so aus ihm hervorsprießt, sind die Haare und die Warzen.«
Isabella erwog diese Worte ohne große Überzeugung.
»Das sagen Sie alles nur, um mich zu entmutigen und damit ich nach Hause gehe.«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein.«
»Sie sind der schlechteste Lehrer der Welt.«
»Der Schüler macht den Lehrer, nicht umgekehrt.«
»Mit Ihnen kann man nicht diskutieren, Sie kennen sämtliche Schliche der Rhetorik. Das ist ungerecht.«
»Nichts ist gerecht. Das Höchste, was man anstreben kann, ist, dass es logisch ist. Die Gerechtigkeit ist eine seltene Krankheit in einer ansonsten kerngesunden Welt.«
»Amen. Ist es das, was passiert, wenn man älter wird? Dass man aufhört, an irgendetwas zu glauben, so wie Sie?«
»Nein. Auch wenn sie älter werden, glauben die meisten Menschen immer noch an Albernheiten, im Allgemeinen an immer größere. Ich schwimme gegen den Strom, weil ich den Leuten gern auf den Geist gehe.«
»Beschwören Sie es nicht. Wenn ich älter bin, werde ich noch immer an irgendetwas glauben.«
»Viel Glück.«
»Und zudem glaube ich an Sie.«
Sie wich meinem Blick nicht aus.
»Weil du mich nicht kennst.«
»Das glauben Sie . Sie sind nicht so geheimnisvoll, wie Sie meinen.«
»Ich will gar nicht geheimnisvoll sein.«
»Das war nur eine nette Umschreibung für unsympathisch. Auch ich kenne die eine oder andere rhetorische List.«
»Das ist keine Rhetorik. Das ist Ironie. Und das ist nicht dasselbe.«
»Müssen Sie eigentlich immer das letzte Wort haben?«
»Wenn man es mir so einfach macht, schon.«
»Und dieser Mann, der Patron…«
»Corelli?«
»Corelli. Macht er es Ihnen leicht?«
»Nein. Corelli kennt noch mehr rhetorische Tricks als ich.«
»Dacht ich’s mir doch. Trauen Sie ihm?«
»Warum fragst du das?«
»Ich weiß nicht. Trauen Sie ihm?«
»Warum sollte ich ihm nicht trauen?«
Sie zuckte die Achseln.
»Womit hat er Sie konkret beauftragt? Wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich soll ein Buch schreiben für seinen Verlag.«
»Einen Roman?«
»Nicht direkt. Eher eine Fabel. Eine Legende.«
»Ein Kinderbuch?«
»In etwa.«
»Und werden Sie es tun?«
»Er zahlt sehr gut.«
Isabella zog die Brauen zusammen.
»Darum schreiben Sie? Weil Sie gut bezahlt werden?«
»Manchmal.«
»Und diesmal?«
»Diesmal werde ich dieses Buch schreiben, weil ich es tun muss.«
»Stehen Sie in seiner Schuld?«
»Vermutlich könnte man das so sagen.«
Sie dachte nach. Ich hatte den Eindruck, sie wollte eine Bemerkung machen, doch sie verkniff sie sich und biss sich auf die Lippen. Dafür schenkte sie mir ein unschuldiges Lächeln und einen ihrer Engelsblicke, mit denen sie im Handumdrehen das Thema wechseln konnte.
»Ich möchte auch fürs Schreiben bezahlt werden.«
»Das möchte jeder, der schreibt, aber das heißt nicht, dass irgendjemand es tut.«
»Und wie erreicht man es?«
»Indem man zunächst einmal in die Veranda runtergeht, ein Blatt Papier nimmt…«
»… die Ellbogen aufstemmt und das Hirn auspresst, bis es schmerzt. Ich weiß.«
Unschlüssig schaute sie mir in die Augen. Ich hatte sie bereits seit anderthalb Wochen bei mir und noch keine Anstalten gemacht, sie nach Hause zurückzuschicken. Vermutlich fragte sie sich, wann ich es tun würde oder warum ich es noch nicht getan hatte. Ich fragte es mich ebenfalls und fand keine Antwort darauf.
»Ich bin gern Ihre Assistentin, obwohl Sie sind, wie Sie sind«, sagte sie schließlich.
Sie schaute mich an, als hinge ihr Leben von einem freundlichen Wort ab. Ich erlag der Versuchung. Gute Worte sind eitle Gefälligkeiten, die keinerlei Opfer erfordern und auf mehr Dankbarkeit stoßen als echte Liebenswürdigkeit.
»Auch ich freue mich, dass du meine Assistentin bist, Isabella, obwohl ich bin, wie ich bin. Und noch mehr wird es mich freuen, wenn du nicht mehr meine Assistentin zu sein brauchst, weil du von mir nichts mehr zu lernen hast.«
»Glauben Sie, ich habe Talent?«
»Ganz ohne Zweifel. In zehn Jahren wirst du die Lehrerin sein und ich der Lehrling.«
In der Wiederholung kamen mir diese Worte wie ein Verrat vor.
»Schwindler«, sagte sie und küsste mich weich auf die Wange, um dann die Treppe hinunterzusausen.
Am Nachmittag ließ ich Isabella vor den leeren Seiten auf dem Schreibtisch zurück, den wir für sie in die Veranda gestellt hatten, und ging zu Don Gustavo Barcelós Buchhandlung in der Calle Fernando, um mir eine gute, lesbare Bibel zu kaufen. Alle Ausgaben des Alten und Neuen Testaments, die ich zuhause hatte, bestanden aus halb durchsichtigem Dünndruckpapier mit mikroskopischer Schrift, sodass ihre Lektüre weniger Inbrunst und göttliche Inspiration als Migräne hervorrief. Barceló, neben vielem anderen ein beharrlicher Sammler von heiligen Schriften und apokryphen christlichen Texten, hatte im hinteren Teil der Buchhandlung einen abgetrennten Raum mit einer famosen Auswahl an Evangelien, Legenden von Seliggesprochenen und Heiligen sowie frommen Texten aller Art.
Als mich einer der Angestellten eintreten sah, benachrichtigte er flugs den Chef in seinem Büro. Euphorisch kam mich Barceló begrüßen.
»Das ist aber eine schöne Überraschung! Sempere hat mir schon gesagt, dass Sie auferstanden sind, aber das ist wirklich unglaublich. Neben Ihnen sieht Valentino aus, als käme er frisch von der Feldarbeit. Wo haben Sie denn gesteckt, Sie Schlingel?«
»Da und dort«, sagte ich.
»Überall außer bei Vidals Hochzeitsschmaus. Man hat Sie vermisst, mein Lieber.«
»Das wage ich zu bezweifeln.«
Der Buchhändler nickte zum Zeichen, dass er meinen Wunsch, nicht weiter auf das Thema einzugehen, verstanden hatte.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
»Auch zwei. Und eine Bibel. Eine handliche, wenn möglich.«
»Das dürfte kein Problem sein. Dalmau?«
Ein Angestellter eilte herbei. »Dalmau, der liebe Martín benötigt eine Bibelausgabe nicht dekorativer, sondern lesbarer Natur. Ich denke an Torres Amat, 1825. Was meinen Sie?«
Eine der Besonderheiten von Barcelós Buchhandlung war, dass hier von den Büchern wie von edlen Weinen gesprochen wurde — samt Bouquet, Aroma, Konsistenz und Jahrgang.
»Vortreffliche Wahl, Señor Barceló, obwohl ich eher zur aktualisierten, durchgesehenen Ausgabe neige.«
»1860?«
»1893.«
»Natürlich. Stattgegeben. Packen Sie sie dem lieben Martín ein, geht auf Kosten des Hauses.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, warf ich ein.
»An dem Tag, da ich von einem Ungläubigen wie Ihnen für das Wort Gottes etwas kassiere, soll mich ein Blitz niederschmettern, und zwar mit vollem Recht.«
Dalmau ging meine Bibel holen, und ich folgte Barceló in sein Büro, wo er uns beiden eine Tasse Tee einschenkte und mir aus seinem Humidor eine Zigarre und zum Anzünden eine Kerze anbot.
»Macanudo?«
»Ich sehe, Sie sind dabei, ihren Gaumen zu bilden. Ein Mann muss Laster haben, und zwar möglichst solche mit Niveau, sonst kann er im Alter von nichts erlöst werden. Ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, zum Henker.«
Eine köstliche Qualmwolke hüllte uns ein.
»Vor ein paar Monaten war ich in Paris und hatte die Gelegenheit, einige Nachforschungen anzustellen zu dem Thema, das Sie vor längerer Zeit Sempere gegenüber erwähnt haben«, erklärte Barceló.
»Die Éditions de la Lumière.«
»Genau. Ich hätte gern etwas tiefer geschürft, aber leider sieht es so aus, als hätte seit der Schließung des Verlages niemand die Rechte übernommen, und so war es schwierig für mich, etwas Brauchbares zusammenzukratzen.«
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