Am Donnerstagmittag trat Eulalia während einer ihrer Pausen an meinen Tisch und fragte, ob ich eigentlich nur Messbücher lese oder ab und zu auch etwas esse. Ich lud sie ein, in der vor kurzem in der Nähe eröffneten Casa Leopoldo mit mir zu speisen. Während wir einen köstlichen geschmorten Ochsenschwanz genossen, erzählte sie mir, sie arbeite seit zwei Jahren auf ihrem Posten und weitere zwei an einem Roman, der nicht vorangehen wolle und dessen Hauptschauplatz die Bibliothek in der Calle del Carmen sei, wo sich eine Reihe mysteriöser Verbrechen ereigneten.
»Ich möchte etwas Ähnliches schreiben wie vor Jahren Ignatius B. Samson in seinen Romanen«, erklärte sie. »Sagt Ihnen das was?«
»Vage.«
Eulalia fand einfach nicht den richtigen Einstieg für ihren Roman, und ich riet ihr, dem Ganzen einen leicht unheimlichen Ton zu verleihen und ihre Geschichte rund um ein geheimes Buch aufzubauen, das von einem gequälten Geist heimgesucht wurde, mit einer Nebenhandlung übernatürlichen Anstrichs.
»Das würde jedenfalls Ignatius B. Samson an ihrer Stelle tun«, sagte ich.
»Und was tun Sie, dass Sie so viel über Engel und Teufel lesen? Sagen Sie nicht, Sie seien ein ehemaliger Priesterseminarist, den die Reue plagt.«
»Ich versuche, die Gemeinsamkeiten in den Ursprüngen verschiedener Religionen und Mythen zu erkennen«, erklärte ich.
»Und was haben Sie bisher gelernt?«
»Fast nichts. Aber ich will Sie nicht mit dem Miserere langweilen.«
»Sie langweilen mich nicht. Erzählen Sie.«
»Nun, am interessantesten schien mir bisher, dass die meisten dieser Glaubenslehren ihren Anfang mit einem Geschehnis oder einer Person von einer gewissen historischen Wahrscheinlichkeit nehmen. Sie entwickeln sich dann schnell zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der Gruppe, die sie annimmt, abhängt und von ihnen geformt wird. Sind Sie noch wach?«
Eulalia nickte.
»Die Mythologie, die sich ausgehend von diesen Doktrinen entwickelt, von ihrer Liturgie bis zu ihren Regeln und Tabus, geht zu einem guten Teil auf die sich herausbildende Bürokratie zurück und nicht auf das vermeintlich übernatürliche Geschehnis, das an ihrem Anfang gestanden haben soll. Die meisten einfachen, erbaulichen Anekdoten, eine Mischung aus gesundem Menschenverstand und Folklore, und die gesamte kriegerische Aufladung, die sie erfahren können, verdanken sich, sofern sie sich nicht selbst widerlegen, der nachträglichen Interpretation dieser Anfänge durch ihre Verwalter. Der Aspekt der Verwaltung und Rangordnung scheint in der Entwicklung von Mythologien eine entscheidende Rolle zu spielen. Im Prinzip wird die Wahrheit allen Menschen offenbart, aber schnell treten Individuen auf den Plan, die sich die Befugnis und die Pflicht anmaßen, diese Wahrheit im Namen des Gemeinwohls zu bewahren, auszulegen und gegebenenfalls zu verändern. Zu diesem Behuf begründen sie eine mächtige, bisweilen diktatorische Organisation. Dieses Phänomen, das, wie uns die Biologie lehrt, typisch ist für jedes im Gruppenverband lebende Tier, macht die Lehre bald zu einem Werkzeug der Kontrolle und des politischen Kampfes. Teilungen, Kriege, Spaltungen sind die Folge. Über kurz oder lang wird das Wort Fleisch, und das Fleisch blutet.«
Ich hatte den Eindruck, schon ganz wie Corelli zu klingen, und seufzte. Eulalia lächelte schwach und schaute mich etwas reserviert an.
»Und das suchen Sie? Blut?«
»Der Nächste im Blut, der Erste am Gut.«
»Da wäre ich nicht so sicher.«
»Ich ahne, dass Sie eine Nonnenschule besucht haben.«
»Die schwarzen Damen. Acht Jahre.«
»Stimmt es, wie man munkelt, dass die Absolventinnen von Nonnenschulen die dunkelsten, unaussprechlichsten Wünsche haben?«
»Ich wette, Sie würden sie liebend gern entdecken.«
»Sie können alle Jetons auf Ja setzen.«
»Was haben Sie in Ihrer Theologie-Schnellbleiche für erregbare Geister sonst noch gelernt?«
»Nicht viel. Meine ersten Erkenntnisse waren ärgerlich: Banalität und Inkonsequenz. All das schien mir schon mehr oder weniger offenkundig, bevor ich mir Enzyklopädien und Traktate über die Kitzligkeit der Engel zu Gemüte geführt habe — vielleicht weil ich nichts verstehen kann, was über meine Vorurteile hinausgeht, oder weil es gar nicht mehr zu verstehen gibt und des Pudels Kern nur im Glauben oder Nichtglauben liegt, ohne dass man über das Warum nachgrübeln muss. Wie finden Sie meine Rhetorik? Beeindruckt sie Sie immer noch?«
»Ich kriege Gänsehaut. Schade, dass ich Sie nicht schon in meiner Zeit als Schülerin mit dunklen Wünschen kennengelernt habe.«
»Sie sind grausam, Eulalia.«
Sie lachte herzlich und schaute mir lange in die Augen.
»Sagen Sie, Ignatius B., wer hat Ihnen so brutal das Herz gebrochen?«
»Ich sehe, Sie können mehr lesen als nur Bücher.«
Wir blieben noch einige Minuten am Tisch sitzen und schauten den Kellnern bei ihrem Hin und Her im Speisesaal der Casa Leopoldo zu.
»Wissen Sie, was das Beste ist an den gebrochenen Herzen?«, fragte die Bibliothekarin.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dass sie nur ein einziges Mal wirklich brechen können. Alles andere sind bloß noch Kratzer.«
»Nehmen Sie das in Ihr Buch auf.«
Ich deutete auf ihren Verlobungsring. »Ich weiß ja nicht, wer dieser Dummkopf ist, aber hoffentlich weiß er, dass er der glücklichste Mann auf Erden ist.«
Eulalia lächelte ein wenig traurig und nickte. Wir gingen in die Bibliothek und dort jeder an seinen Platz zurück, sie an ihren Schreibtisch, ich in meinen Winkel. Am nächsten Tag befand ich, keine einzige Zeile über Offenbarungen und ewige Wahrheiten mehr lesen zu können und zu wollen. Auf dem Weg zur Bibliothek kaufte ich Eulalia an einem Stand auf den Ramblas eine weiße Rose und legte sie ihr zum Abschied auf den leeren Schreibtisch. Ich traf sie in einem der Korridore beim Büchereinordnen.
»So bald verlassen Sie mich wieder?«, fragte sie, als sie mich erblickte. »Wer macht mir nun Komplimente?«
»Wer nicht?«
Sie begleitete mich zum Ausgang und gab mir oben an der Treppe, die zum Innenhof des ehemaligen Hospizes hinunterführte, die Hand. Ich ging die Treppe hinunter. In der Mitte blieb ich stehen und drehte mich um. Sie stand noch dort und schaute mir nach.
»Viel Glück, Ignatius B. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«
Beim Abendessen mit Isabella am Verandatisch bemerkte ich, dass sie mich verstohlen anschaute.
»Schmeckt Ihnen die Suppe nicht? Sie rühren Sie ja gar nicht an…«
Ich sah auf den vollen, erkaltenden Teller hinab, nahm einen Löffel und tat so, als kostete ich die erlesenste Delikatesse.
»Sehr gut.«
»Sie haben auch noch kein Wort gesprochen, seit Sie aus der Bibliothek zurück sind«, fügte sie hinzu.
»Sonst noch eine Beschwerde?«
Verdrießlich schaute sie weg. Ich löffelte die kalte Suppe ohne Appetit und nur, um mich nicht unterhalten zu müssen.
»Warum sind Sie denn so traurig? Ist es wegen dieser Frau?«
Ich legte den Löffel ab, ohne eine Antwort zu geben, und rührte dann damit in der halb aufgegessenen Suppe. Isabellas Blick ruhte auf mir.
»Sie heißt Cristina«, sagte ich. »Und ich bin nicht traurig. Ich bin froh für sie, weil sie meinen besten Freund geheiratet hat und sehr glücklich sein wird.«
»Und ich bin die Königin von Saba.«
»Vorwitzig, das bist du.«
»So gefallen Sie mir schon besser, wenn Sie ein Ekel sind und die Wahrheit sagen.«
»Mal sehen, ob dir auch das gefällt: Hau ab in dein Zimmer und lass mich verdammt noch mal endlich in Ruhe.«
Sie versuchte zu lächeln, doch als ich die Hand nach ihr ausstreckte, hatten sich ihre Augen schon mit Tränen gefüllt. Sie flüchtete mit unseren beiden Tellern in die Küche. Ich hörte, wie sie das Geschirr in den Spülstein fallen ließ und Sekunden später ihre Tür zuschlug. Ich seufzte und genoss das Glas Wein, das noch vor mir stand, ein edler Tropfen aus dem Laden von Isabellas Eltern. Nach einer Weile klopfte ich leise bei ihr an. Sie antwortete nicht, aber ich hörte sie schluchzen. Als ich versuchte, die Tür zu öffnen, merkte ich, dass sie abgeschlossen hatte.
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