»Für den Moment kannst du hierbleiben…«
»Danke!«
»Nicht so voreilig. Du kannst bleiben unter der Bedingung, dass du erstens jeden Tag in den Laden gehst, um deinen Eltern guten Tag zu sagen und sie wissen zu lassen, dass es dir gutgeht, und zweitens, dass du mir gehorchst und die Hausregeln befolgst.«
Das klang zwar patriarchalisch, aber auch viel zu zaghaft. Ich wahrte meinen mürrischen Ausdruck und beschloss, den Ton etwas anzuziehen.
»Welches sind denn die Hausregeln?«
»Grundsätzlich das, was mir gerade in den Sinn kommt.«
»Scheint mir gerecht.«
»Also abgemacht.«
Sie ging um den Tisch herum und umarmte mich dankbar. Ich spürte die Wärme und die festen Formen ihres jungen Mädchenkörpers an meinem. Sanft schob ich sie mindestens einen Meter von mir weg.
»Die erste Regel lautet, dass das hier nicht Betty und ihre Schwestern ist und dass wir uns hier weder umarmen noch bei erstbester Gelegenheit in Tränen ausbrechen.«
»Wie Sie wollen.«
»Das wird das Motto sein, auf das wir unser Zusammenleben gründen: Wie ich will.«
Isabella lachte und huschte in den Flur hinaus.
»Wo gehst du hin?«
»Ins Arbeitszimmer, um sauber zu machen und aufzuräumen. Es soll doch wohl nicht so bleiben, wie es ist, oder?«
Ich brauchte unbedingt einen Ort, wo ich nachdenken konnte und vom häuslichen Eifer und der Putzwut meiner neuen Assistentin verschont blieb. Ich fand ihn unter den Spitzbögen in der großen Halle der Bibliothek, die im ehemaligen mittelalterlichen Hospiz in der Calle del Carmen untergebracht war. Den Rest des Tages verbrachte ich inmitten von Büchern, die nach päpstlicher Gruft rochen, und las in Mythologien und Religionsgeschichten, bis meine Augen auf den Tisch zu purzeln drohten. Nach stundenlanger ununterbrochener Lektüre überschlug ich, dass ich kaum ein Millionstel dessen angekratzt hatte, was unter den Bögen dieses Bücherheiligtums zu finden war, ganz zu schweigen von dem, was über das Thema insgesamt geschrieben worden war. Ich beschloss, am nächsten Tag wiederzukehren, ebenso am übernächsten und so mindestens eine ganze Woche, um den Dampfkessel meines Denkens mit Abertausenden Seiten über Götter, Wunder und Prophezeiungen, Heilige und Erscheinungen, Offenbarungen und Mysterien anzuheizen. Alles, nur nicht an Cristina und Don Pedro und ihr Eheleben denken.
Da ich nun eine emsige Assistentin hatte, wies ich sie an, sich Kopien von den Katechismen und Schulbüchern zu verschaffen, die in der Stadt für den Religionsunterricht verwendet wurden, und mir von jedem einzelnen ein Resümee zu schreiben. Sie stellte die Anordnung zwar nicht infrage, runzelte aber die Stirn, als sie sie empfing.
»Ich will haargenau wissen, wie den Kindern der ganze Klimbim beigebracht wird, von der Arche Noah bis zum Wunder mit den Broten und den Fischen«, erklärte ich.
»Warum denn das?«
»Weil ich so bin und weil ich ein breites Spektrum an Interessen habe.«
»Recherchieren Sie für eine Neufassung von Mein Jesulein fein ?«
»Nein. Ich plane eine Romanversion der Abenteuer von Catalina de Erauso. Und du tust ganz einfach, was ich dir sage, und zwar ohne Widerspruch, sonst spedier ich dich in den Laden deiner Eltern zurück, wo du nach Lust und Laune Quittengelee verkaufen kannst.«
»Sie sind ein Despot.«
»Schön, dass wir uns allmählich kennenlernen.«
»Hat es etwas mit dem Buch zu tun, das Sie für diesen Verleger schreiben werden, Corelli?«
»Könnte sein.«
»Mein kleiner Finger sagt mir, dass die Verkaufschancen dieses Buches gleich null sind.«
»Was verstehst denn du davon?«
»Mehr, als Sie denken. Und Sie brauchen sich gar nicht so zu haben — ich versuche Ihnen nur zu helfen. Oder haben Sie etwa beschlossen, das professionelle Schreiben sein zu lassen und nur noch bei Kaffee und Kuchen zu dilettieren?«
»Im Moment habe ich alle Hände voll zu tun, das Kindermädchen zu spielen.«
»Die Diskussion, wer hier wessen Kindermädchen ist, sollten wir besser nicht eröffnen — da gewinne ich um Längen.«
»Und welches Thema sagt Eurer Exzellenz denn zu?«
»Wohlfeile Kunst versus Blödsinn mit Moral.«
»Liebe Isabella, meine kleine Vesuvin: Was wohlfeile Kunst angeht, und jede Kunst, die diesen Namen verdient, ist über kurz oder lang verkäuflich, so liegt die Dummheit fast immer im Auge des Betrachters.«
»Heißen Sie mich einen Dummkopf?«
»Ich heiße dich schweigen. Tu, was ich dir sage, und Punktum. Kein Mucks mehr.«
Ich deutete auf die Tür, und Isabella verdrehte die Augen und ging leise schimpfend durch den Korridor davon.
Während sie Schulen und Buchhandlungen nach Unterrichtsbüchern und Katechismen durchforstete, um Kurzfassungen zu erstellen, suchte ich weiterhin die Bibliothek in der Calle del Carmen auf, um meine theologische Bildung zu vertiefen, ein Unterfangen, das ich mit exzessivem Kaffeegenuss und Stoizismus betrieb. Die ersten sieben Tage dieses seltsamen Wirkens zeitigten nichts als Zweifel. Eine der wenigen Gewissheiten, die ich erlangte, war, dass die meisten Autoren, die sich berufen gefühlt hatten, über Gott und die Welt und das Heilige zu schreiben, höchst bewanderte, fromme Gelehrte gewesen sein dürften, als Schriftsteller aber nicht das Geringste taugten. Der duldsame Leser, der durch ihre Seiten zu schlingern gezwungen war, musste sich bei jedem Absatz gewaltig anstrengen, um vor Langeweile nicht in Tiefschlaf zu fallen.
Nachdem ich Tausende einschlägige Seiten überlebt hatte, gewann ich immer mehr den Eindruck, dass all die seit Erfindung des Buchdrucks überlieferten Glaubenslehren einander außerordentlich ähnlich waren. Ich schrieb diesen ersten Eindruck meiner Unwissenheit oder unzureichender Recherche zu, aber es kam mir vor, als hätte ich wieder und wieder die eine Geschichte Dutzender Detektivromane gelesen, in denen zwar der jeweilige Mörder ein anderer, die Handlungsmechanik aber grundsätzlich immer dieselbe war. Mythen und Legenden, ob sie nun von Gottheiten oder der Entstehung und Geschichte von Völkern und Geschlechtern handelten, erschienen mir zunehmend wie Puzzles, die das gleiche Gesamtbild ergaben, deren Teile aber unterschiedlich angeordnet wurden.
Nach zwei Tagen hatte ich mich bereits mit Eulalia, der Chefbibliothekarin, angefreundet, die mir aus den Papierfluten ihrer Zuständigkeit Texte und Bände herausfischte und manchmal zu mir in einen versteckten Winkel kam, um sich nach meinen weiteren Bedürfnissen zu erkundigen. Sie war etwa in meinem Alter und hatte Witz im Übermaß, der sich gewöhnlich in spitzen Sticheleien ausdrückte.
»Sie lesen ja tonnenweise Heiligengeschichten, mein Herr. Haben Sie vor, an der Schwelle zum besten Mannesalter noch Messdiener zu werden?«
»Es handelt sich um reine Recherche.«
»Das sagen sie alle.«
Die Scherze und der Esprit der Bibliothekarin waren ein unbezahlbarer Balsam, der mich die knochentrockenen Texte überleben ließ und mir erlaubte, meine Recherchewallfahrt fortzusetzen. Wenn Eulalia ein wenig Muße hatte, kam sie zu mir und half mir, den ganzen Wirrwarr irgendwie zu ordnen. Auf diesen Seiten voller Verrat und Bekehrung wimmelte es von Vätern und Söhnen, reinen und heiligen Müttern, Prophezeiungen und Propheten, die der Himmel oder die Herrlichkeit geschickt hatte, von Säuglingen, die das Universum erlösen würden, von unheilvollen und abstoßenden Wesen in Tiergestalt, von ätherischen Geschöpfen, die gemäß bestimmter Rassemerkmale gestaltet waren und das Gute vertraten, und von Helden, welche sich schrecklichen Schicksalsprüfungen zu unterziehen hatten. Immer schimmerte die Vorstellung durch, das irdische Dasein sei eine Art Durchgangsstation, deshalb solle man sich in sein Schicksal fügen und die Regeln der Gemeinschaft befolgen, denn als Belohnung warte das Paradies, und dort war alles, was man im leiblichen Leben entbehrt hatte, im Überfluss vorhanden.
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