»Ich weiß, was du da im Schilde führst, und es wird nicht funktionieren«, sagte ich.
»Eine Tasse Kaffee einschenken?«
Sie hatte die in Stapeln auf Tischen und in Ecken verteilten Bücher geordnet. Sie hatte die seit über einem Jahrzehnt überquellenden Zeitungsständer geleert. In nur sieben Stunden hatte sie mit ihrem Eifer und ihrer bloßen Anwesenheit Jahre der Düsterkeit und Finsternis weggefegt, und noch immer fand sie Zeit und Lust zu lächeln.
»Vorher hat es mir besser gefallen«, sagte ich.
»Sicher. Ihnen und den hunderttausend Kakerlaken, die Sie in Untermiete hatten und die ich mit frischer Luft und Ammoniak davongejagt habe.«
»Das also ist dieser grässliche Gestank?«
»Der grässliche Gestank ist der Geruch von Sauberkeit«, protestierte sie. »Sie könnten auch ein wenig dankbar sein.«
»Bin ich auch.«
»Merkt man aber nicht. Morgen geh ich ins Arbeitszimmer hinauf und…«
»Untersteh dich!«
Sie zuckte die Achseln, aber ihr Blick behielt seine Entschlossenheit, und ich wusste, dass vierundzwanzig Stunden später das Arbeitszimmer im Turm für immer verändert sein würde.
»Übrigens habe ich heute Morgen einen Briefumschlag im Vorraum gefunden. Jemand muss ihn gestern Abend unter der Tür durchgeschoben haben.«
Ich schaute sie über die Tasse hinweg an.
»Die Eingangstür unten ist abgeschlossen«, sagte ich.
»Das dachte ich auch. Es kam mir auch sehr merkwürdig vor, und obwohl Ihr Name drauf steht…«
»… hast du ihn geöffnet.«
»Ich fürchte, ja. Es ist ganz ohne Absicht geschehen.«
»Isabella, die Post anderer Leute zu öffnen ist ziemlich ungezogen. An manchen Orten steht darauf sogar Gefängnis.«
»Das sage ich meiner Mutter auch immer, die es nicht lassen kann, meine Briefe zu öffnen. Und sie ist immer noch auf freiem Fuß.«
»Wo ist der Brief?«
Sie zog einen Umschlag aus der Schürzentasche und reichte ihn mir mit einem ausweichenden Blick. Er war aus dickem, porösem, elfenbeinfarbenem Papier mit gezackten Rändern, und es zierten ihn das rote — erbrochene — Lacksiegel des Engels und mein Name in karmesinroter, parfümierter Tinte. Ich öffnete ihn und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus.
Verehrter David,
ich hoffe, Sie sind wohlauf und haben die vereinbarte Summe problemlos auf ein Konto einzahlen können. Was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend bei mir treffen, um mit der Erörterung der Einzelheiten unseres Projekts zu beginnen? Gegen zehn Uhr wird ein leichtes Abendessen aufgetragen. Ich erwarte Sie.
Ihr Freund Andreas Corelli
Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in den Umschlag. Isabella betrachtete mich neugierig.
»Gute Nachrichten?«
»Nichts, was dich etwas anginge.«
»Wer ist dieser Señor Corelli? Er hat eine schöne Schrift, nicht so wie Sie.«
Ich schaute sie streng an.
»Wenn ich Ihre Assistentin sein soll, muss ich doch wissen, mit wem Sie Umgang pflegen. Falls ich jemanden vor die Tür setzen soll.«
Ich schnaubte.
»Er ist Verleger.«
»Er muss gut sein, schauen Sie nur, was für Briefpapier und Umschläge er verwendet. Was für ein Buch schreiben Sie denn für ihn?«
»Nichts, was dich etwas anginge.«
»Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie mir nicht sagen wollen, woran Sie arbeiten? Nein, besser, Sie antworten nicht. Ich schweige ja.«
Zehn gesegnete Sekunden lang schwieg sie. Dann fragte sie:
»Wie ist dieser Señor Corelli?«
Ich schaute sie kühl an.
»Eigen.«
»Gleich und Gleich… Ich sag ja nichts.«
Als ich dieses junge Mädchen mit dem edelmütigen Herzen so anschaute, fühlte ich mich, sofern das überhaupt möglich war, noch elender. Mir wurde klar, dass ich sie wegschicken musste, je eher, desto besser für uns beide.
»Warum schauen Sie mich so an?«
»Heute Abend werde ich ausgehen, Isabella.«
»Soll ich Ihnen etwas zu essen vorbereiten? Werden Sie sehr spät zurückkommen?«
»Ich werde auswärts essen und weiß nicht, wann ich zurückkomme, aber wann es auch sein mag, ich will, dass du gegangen bist, wenn ich komme. Ich will, dass du deine Siebensachen mitnimmst und gehst. Wohin, ist mir egal. Hier ist kein Platz für dich. Verstanden?«
Sie wurde bleich, und ihre Augen flossen über. Sie biss sich auf die Lippen und lächelte mir mit Tränen auf den Wangen zu.
»Ich bin überflüssig. Ich verstehe.«
»Und mach nicht weiter sauber.«
Ich stand auf, ließ sie in der Veranda stehen und verkroch mich im Arbeitszimmer im Turm. Ich öffnete die Fenster. Von unten drang Isabellas Weinen herauf. Ich betrachtete die in der Mittagssonne daliegende Stadt und schaute dann zum anderen Ende hinauf, wo ich beinahe die glänzenden Ziegel auf der Villa Helius zu sehen glaubte und mir Cristina, Señora Vidal, vorstellte, wie sie oben von den Turmfenstern zum Ribera-Viertel herabschaute. Etwas Dunkles, Trübes legte sich mir aufs Herz. Ich vergaß Isabellas Tränen und sehnte nur noch die Begegnung mit Corelli herbei, um mit ihm über das verdammte Buch zu sprechen.
Ich blieb im Arbeitszimmer im Turm, bis sich die Dämmerung über der Stadt ausbreitete wie Blut im Wasser. Es war heiß, heißer als den ganzen Sommer über, und die Dächer des Viertels flirrten im Dunst. Ich ging in die Wohnung hinunter und zog mich um. Alles war still, die Jalousien in der Veranda waren halb heruntergelassen und die Scheiben in ein bernsteinfarbenes Licht getaucht, das bis in den Korridor hinein schien.
»Isabella?«, rief ich.
Ich erhielt keine Antwort. Ich schaute in die Veranda und sah, dass sie gegangen war. Davor hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Ignatius B. Samsons gesammelte Werke, die in einer jetzt makellos glänzenden Vitrine jahrelang verstaubt und vergessen waren, zu ordnen und zu reinigen. Eines der Bücher hatte sie, in der Mitte aufgeschlagen, auf ein Stehpult gelegt. Ich las aufs Geratewohl eine Zeile und hatte das Gefühl, in eine Zeit zurückzureisen, in der alles ebenso einfach wie unvermeidlich schien.
»›Ein Gedicht wird mit Tränen geschrieben, ein Roman mit Blut und die Geschichte mit Lappalien‹, sagte der Kardinal, während er die Messerschneide im Licht des Kandelabers mit Gift bestrich.«
Die bemühte Naivität dieser Zeilen entlockte mir ein Lächeln und weckte erneut einen Verdacht, der mich nie ganz verlassen hatte: Vielleicht wäre es für alle, vor allem für mich selbst, besser gewesen, wenn Ignatius B. Samson nie aus dem Leben geschieden wäre und David Martín seinen Platz überlassen hätte.
Es wurde bereits dunkel, als ich aus dem Haus ging. Wärme und Feuchtigkeit hatten zahllose Nachbarn mit Stühlen auf die Straße hinausgetrieben, um in den Genuss einer Brise zu kommen, die nicht aufkommen wollte. Ich wich den Grüppchen vor den Hauseingängen und an den Ecken aus und wandte mich zum Francia-Bahnhof, wo immer zwei, drei Taxis auf Kundschaft warteten. Ich stieg ins erste der Reihe. Wir brauchten etwa zwanzig Minuten für den Weg quer durch die Stadt und hinauf auf den Hügel mit dem geisterhaften Wald des Architekten Gaudí. Die Lichter von Corellis Haus waren schon von weitem zu sehen.
»Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt«, bemerkte der Fahrer.
Sowie ich ihm die Fahrt bezahlt und ein Trinkgeld ausgehändigt hatte, suchte er in aller Eile das Weite. Ich blieb einige Augenblicke stehen, um die seltsame Stille dieses Ortes zu genießen. Kaum ein Blatt bewegte sich im Wald. In alle Richtungen dehnte sich der Sternenhimmel mit einigen hingepinselten Wolken aus. Ich konnte meinen eigenen Atem, das leichte Rascheln meiner Kleider beim Gehen, meine sich der Tür nähernden Schritte hören. Ich zog an der Klingel und wartete.
Wenig später wurde geöffnet. Ein Mann mit schlaffem Blick und schlaffen Schultern nickte angesichts meines Erscheinens und bat mich herein. Seine Gewandung wies ihn als eine Art Butler oder Diener aus. Er gab keinen Laut von sich. Ich folgte ihm durch den von Porträts gesäumten Korridor, an dessen Ende er mir den Vortritt in den großen Salon ließ, von dem aus man auf die ganze Stadt hinuntersah. Mit einer leichten Verneigung ließ er mich allein und zog sich ebenso langsam zurück, wie er mich begleitet hatte. Ich trat an die hohen Fenster und spähte, auf Corelli wartend, zwischen den Gardinen hindurch. Nach zwei Minuten bemerkte ich, dass mich aus einer Ecke des Salons eine Gestalt beobachtete. Der Mann saß vollkommen reglos in einem Sessel am Rand des Lichtscheins einer Öllampe, sodass nur die Beine und die auf den Armlehnen ruhenden Hände beleuchtet waren. Ich erkannte ihn an seinen glänzenden Augen, die nie blinzelten, und am Widerschein des Öllichts auf der Engelsbrosche, die stets an seinem Revers steckte. Sowie ich ihn ins Auge fasste, stand er auf und kam mit raschen, allzu raschen Schritten auf mich zu. Das wölfische Lächeln auf seinen Lippen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
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