Cristina Sagnier, Tochter des Fahrers und Sekretärin meines Mentors, ging einen Stapel Bücher durch, die Sempere ins Verkaufsregister eintrug. Als sie mich erblickte, lächelte sie höflich, aber ganz offensichtlich erkannte sie mich auch diesmal nicht. Sempere schaute auf, und als er meinen dümmlichen Blick auffing, erstellte er rasch ein Röntgenbild der Situation.
»Sie kennen sich schon, nicht wahr?«, fragte er.
Cristina zog überrascht die Brauen hoch und schaute mich erneut an, konnte mich aber nicht einordnen.
»David Martín. Ein Freund von Don Pedro«, sagte ich.
»Ach ja, natürlich. Guten Tag.«
»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte ich.
»Gut, gut. Er wartet an der Ecke im Wagen auf mich.«
Sempere, der jede Gelegenheit beim Schopf packte, mischte sich ein.
»Señorita Sagnier ist hier, um einige Bücher abzuholen, die Vidal bestellt hat. Sie sind ziemlich schwer, vielleicht könnten Sie so freundlich sein und sie ihr zum Auto tragen.«
»Bemühen Sie sich nicht…«, protestierte Cristina.
»Aber selbstverständlich«, platzte ich heraus und wollte den Stapel hochheben, der etwa so viel wog wie die Luxusausgabe der Encyclopædia Britannica mitsamt Ergänzungsbänden.
Ich spürte, wie in meinem Rücken etwas knackte, und Cristina schaute mich erschrocken an.
»Geht es Ihnen gut?«
»Haben Sie keine Angst, Señorita. Der liebe Martín ist bärenstark, obwohl er ein Literat ist«, sagte Sempere. »Stimmt doch, oder, Martín?«
Cristina schaute mich wenig überzeugt an. Ich setzte das Lächeln des unbesiegbaren Machos auf.
»Nichts als Muskeln. So etwas mach ich zum Aufwärmen.«
Sempere junior erbot sich, die Hälfte der Bücher zu tragen, aber in einer diplomatischen Anwandlung fasste ihn sein Vater am Arm. Cristina hielt mir die Tür auf, und ich nahm die fünfzehn oder zwanzig Meter zu dem an der Ecke des Portal del Ángel geparkten Hispano-Suiza in Angriff. Mit größter Mühe schaffte ich die Strecke, kurz bevor meine Arme in Flammen aufgingen. Manuel, der Fahrer, half mir beim Einladen und grüßte mich herzlich.
»Was für ein Zufall, Sie hier zu sehen, Señor Martín.«
»Die Welt ist klein.«
Cristina schenkte mir ein leichtes Lächeln als Dankeschön und stieg ein.
»Tut mir leid, das mit den Büchern.«
»Nicht der Rede wert. Ein wenig Training hebt die Moral.«
Ich nahm die Verspannungen und Verknotungen, die sich in meinem Rücken gebildet hatten, nicht zur Kenntnis. »Grüßen Sie mir Don Pedro.«
Ich schaute zu, wie sie in Richtung Plaza Catalunya davonfuhren, und als ich mich umwandte, erblickte ich Sempere in der Tür der Buchhandlung. Er sah mit katzenhaftem Grinsen zu mir her und bedeutete mir, den Speichel abzuwischen. Ich ging zu ihm und musste selbst über mich lachen.
»Jetzt kenne ich Ihr Geheimnis, Martín. Ich hätte Sie in solchen Gefechten für beherrschter gehalten.«
»Ich bin etwas aus der Übung.«
»Wem erzählen Sie das. Kann ich das Buch ein paar Tage behalten?«
Ich nickte.
»Passen Sie gut darauf auf.«
Monate später sah ich sie in Gesellschaft von Pedro Vidal an dem Tisch wieder, der in der Maison Dorée immer für ihn reserviert war. Er lud mich ein, mich dazuzusetzen, aber ich brauchte nur einen Blick mit ihr zu wechseln, um zu wissen, dass ich das Angebot ausschlagen musste.
»Was macht der Roman, Don Pedro?«
»Große Fortschritte.«
»Freut mich. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«
Unsere Begegnungen waren zufällig. Manchmal traf ich sie in der Buchhandlung Sempere und Söhne, wo sie oft für Don Pedro Bücher abholte. Wenn es sich ergab, ließ mich Sempere mit ihr allein, aber bald roch Cristina den Braten und schickte einen der Diener aus der Villa Helius, um die Bestellungen abzuholen.
»Ich weiß, es geht mich nichts an«, sagte Sempere, »aber vielleicht sollten Sie sie sich aus dem Kopf schlagen.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Señor Sempere.«
»Martín, wir kennen uns schon ziemlich lange…«
Die Monate vergingen wie im Nebel, ohne dass ich es richtig merkte. Ich lebte des Nachts, schrieb von der Abend- bis zur Morgendämmerung und schlief tagsüber. Barrido und Escobillas konnten sich gar nicht genug zum Erfolg der Stadt der Verdammten beglückwünschen, und wenn sie mich am Rand des Zusammenbruchs sahen, versicherten sie, nach den nächsten beiden Romanen würden sie mir ein Sabbatjahr gewähren, damit ich ausruhen oder einen eigenen Roman schreiben könnte, für den sie gewaltig die Werbetrommel rühren würden, und zwar mit meinem richtigen Namen in Großbuchstaben auf dem Umschlag. Immer nach den nächsten beiden Romanen. Die Stiche, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle wurden häufiger und intensiver, aber ich schrieb sie der Müdigkeit zu und erstickte sie mit noch mehr Koffein-, Zigaretten- und Kodeininjektionen und was mir ein Apotheker in der Calle Argenteria sonst noch unterm Ladentisch zusteckte und was in meinen Adern explodierte. Don Basilio, mit dem ich jeden zweiten Donnerstag auf einer Restaurantterrasse in der Barceloneta zu Mittag aß, drängte mich zu einem Arztbesuch. Ich sagte ihm jedes Mal, ich hätte noch in dieser Woche einen Termin.
Abgesehen von meinem ehemaligen Chef und den Semperes traf ich mich aus Zeitgründen höchstens noch mit Vidal, und wenn das geschah, dann eher weil er mich aufsuchte als aus eigenem Antrieb. Er mochte das Haus mit dem Turm nicht und wollte immer hinaus und einen Spaziergang machen, bis wir gewöhnlich im Almirall in der Calle Joaquin Costa landeten, wo er ein Konto hatte und freitagabends einen literarischen Stammtisch pflegte. Zu dem lud er mich allerdings nicht ein, denn die Teilnehmer, allesamt frustrierte Dichterlinge und Arschkriecher, die in Erwartung eines Almosens, einer Empfehlung an einen Verleger oder eines lobenden Wortes zur Übertünchung verletzter Eitelkeiten alle seine Einfälle beklatschten, hassten mich bekanntermaßen mit einer Energie und Ausdauer, die ihren künstlerischen Unterfangen fehlte, welche ein ignorantes, hinterhältiges Publikum einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Dort erzählte er mir im Absinth- und Havannadunst von seinem Roman, der nie fertig wurde, von seinen Plänen, sich vom Nichtstun pensionieren zu lassen, und seinen Liebschaften und Eroberungen, die desto jünger und heiratsfähiger waren, je älter er wurde.
»Du fragst mich gar nicht nach Cristina«, sagte er manchmal boshaft.
»Was soll ich denn fragen?«
»Ob sie mich nach dir fragt.«
»Fragt sie Sie denn nach mir, Don Pedro?«
»Nein.«
»Eben.«
»Tatsächlich hat sie dich neulich erwähnt.«
Ich schaute ihn an, um zu sehen, ob er mich auf den Arm nahm.
»Und was hat sie gesagt?«
»Das wirst du nicht gern hören.«
»Schießen Sie schon los.«
»Sie hat es nicht mit diesem Wort gesagt, aber ich glaubte zu verstehen, dass sie nicht begreift, warum du dich mit Schundromanen für diese zwei Gauner prostituierst und dein Talent und deine Jugend zum Fenster hinauswirfst.«
Es fühlte sich an, als hätte Vidal mir einen Dolch aus Eis in den Magen gestoßen.
»Das denkt sie also?«
Er zuckte die Schultern.
»Von mir aus kann sie sich zum Teufel scheren.«
Ich arbeitete jeden Tag außer sonntags. Da schlenderte ich dann durch die Straßen und endete fast immer in einem Weinkeller in der Avenida del Paralelo, wo man leicht in den Armen einer anderen einsamen, erwartungsvollen Seele flüchtige Gesellschaft und Zuneigung fand. Bis zum Morgen danach, wenn ich neben einer von ihnen erwachte und in ihr eine Fremde entdeckte, wollte ich nie wahrhaben, dass sie sich alle glichen, in der Hautfarbe, dem Gang, einer Geste oder einem Blick. Um das schneidende Schweigen des Abschieds zu ersticken, fragten mich diese Damen für eine Nacht über kurz oder lang immer, womit ich mein Brot verdiene, und wenn mich die Eitelkeit trieb und ich mich als Schriftsteller zu erkennen gab, nannten sie mich einen Lügner — niemand hatte je von einem David Martín gehört, wohingegen einige wussten, wer Ignatius B. Samson war, und Die Stadt der Verdammten vom Hörensagen kannten. Mit der Zeit gab ich vor, im Hafenzollhaus der Atarazanas oder als Gehilfe in der Anwaltskanzlei Sayrach, Muntaner y Cruells zu arbeiten.
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