»Auf Wiedersehen, Mutter.«
Damit war dieses Kapitel in seinem Leben abgeschlossen.
* * * *
Allan schuftete für seine Dynamitfirma und baute sich in den frühen Zwanzigern einen beträchtlichen Kundenstamm in ganz Sörmland auf. Am Samstagabend, wenn seine Altersgenossen zum Tanz gingen, blieb Allan zu Hause sitzen und bastelte an neuen Formeln, um die Qualität seines Dynamits zu verbessern. Und am Sonntag ging er zu seiner Kiesgrube und führte neue Probesprengungen durch. Allerdings nicht zwischen elf und ein Uhr – das hatte er dem Pfarrer in Yxhult schließlich versprechen müssen, damit der nicht so viel darüber lamentierte, dass Allan dem Gottesdienst fernblieb.
Er fühlte sich allein recht wohl, und das war auch gut so, denn er lebte ziemlich einsam. Da er sich nicht der Arbeiterbewegung anschloss, verachtete man ihn in sozialistischen Kreisen, doch er war zu sehr Arbeiter und Sohn seines Vaters, als dass man ihn in irgendwelchen bürgerlichen Salons empfangen hätte. In denen saß außerdem Großhändler Gustavsson, und der wollte auf keinen Fall Umgang mit der Karlsson-Rotznase pflegen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn der Kerl am Ende noch aufschnappte, was für einen Preis Gustavsson für dieses Ei erzielt hatte, das er Allans Mutter zu einem Spottpreis abgenommen und an einen Diplomaten in Stockholm weiterverkauft hatte. Dank diesem Geschäft war Gustavsson jetzt der dritte stolze Automobilbesitzer der Gegend.
Da hatte er damals wirklich Glück gehabt. Aber das Glück lachte Großhändler Gustavsson nicht so lange, wie er es sich gewünscht hätte. Eines Sonntags im August 1925 machte er sich nach dem Gottesdienst mit seinem Auto zu einem Ausflug auf, in erster Linie, um sich in seinem Gefährt zu zeigen. Dummerweise schlug er den Weg ein, der bei Allan Karlsson in Yxhult vorbeiführte. In der Kurve bei Allans Hütte musste Gustavsson nervös geworden sein (falls nicht sogar Gott oder die Vorsehung irgendwie eingriffen), jedenfalls bockte die Schaltung, und Gustavsson fuhr mitsamt seinem Automobil geradewegs in die Kiesgrube hinter der kleinen Hütte, statt rechts daran vorbeizusteuern. Schlimm genug, wenn Gustavsson sich einfach nur auf Allans Grund und Boden begeben und eine Erklärung hätte abgeben müssen, aber es sollte noch viel schlimmer kommen: Gerade als Gustavsson sein hochglanzpoliertes Automobil zum Stehen gebracht hatte, führte Allan nämlich die erste Probesprengung an diesem Sonntag durch.
Der junge Karlsson war hinter dem Plumpsklo in Deckung gegangen und sah und hörte nichts. Dass irgendwas schiefgegangen sein musste, wurde ihm erst klar, als er zur Kiesgrube zurückkehrte, um das Ergebnis der Sprengung in Augenschein zu nehmen. Da lag das Automobil des Großhändlers über die halbe Grube verteilt, und hier und da auch Teile des Großhändlers selbst.
Der Kopf des Großhändlers war kurz vor dem Wohnhaus ganz weich auf einem kleinen Rasenstückchen gelandet. Dort lag er nun und richtete seinen leeren Blick auf das Bild der Verwüstung.
»Was hatten Sie in meiner Kiesgrube zu suchen?«, fragte Allan.
Der Großhändler antwortete nicht.
* * * *
In den nächsten vier Jahren hatte Allan genug Zeit, um zu lesen und sich ausführlich in die gesellschaftlichen Entwicklungen einzuarbeiten. Er wurde umgehend eingesperrt, obwohl man gar nicht so leicht hätte sagen können, wofür eigentlich. Irgendwie hatte Allans Vater damit zu tun, der alte Umstürzler. Da beschloss ein junger und hungriger Lehrjunge des Rassenbiologen Professor Bernhard Lundborg in Uppsala, auf Allan seine Karriere aufzubauen. Nach einigem Hin und Her landete Allan in Lundborgs Klauen und wurde kurzerhand zwangssterilisiert aufgrund »eugenischer und sozialer Indikation«, was bedeutete, dass Allan wohl ein wenig zurückgeblieben war und dass jedenfalls noch genug von seinem Vater in ihm steckte, dass der Staat ein Recht hatte, jede weitere Fortpflanzung der Familie Karlsson zu unterbinden.
Die Sterilisierung an sich störte Allan nicht so sehr, er fand sogar, dass er in Professor Lundborgs Klinik sehr freundlich aufgenommen worden war. Dort musste er ab und zu Fragen zu allen möglichen Themen beantworten, unter anderem, warum er Dinge und Menschen in die Luft sprengte und ob seines Wissens Negerblut in seinen Adern floss. Darauf erwiderte Allan, dass es ihm zwar Freude bereite, eine Ladung Dynamit hochzujagen, dass er aber schon einen gewissen Unterschied zwischen Dingen und Menschen sehe. Einen Stein zu spalten, der einem im Weg stand, könne sich ganz gut anfühlen. Wenn einem aber statt eines Steins ein Mensch im Weg stehe, reiche es nach Allans Erachten, den Betreffenden zu bitten, ein Stück zur Seite zu gehen. Ob Professor Lundborg nicht derselben Meinung sei?
Doch Bernhard Lundborg gehörte nicht zu den Ärzten, die sich mit ihren Patienten auf philosophische Diskussionen einließen. Stattdessen wiederholte er die Frage nach dem Negerblut. Allan antwortete, das könne man nicht wissen, aber seine Eltern seien ebenso weißhäutig gewesen wie er, und ob diese Antwort für den Herrn Professor nicht ausreichend sei? Er fügte hinzu, dass er unheimlich gern mal einen richtigen Neger sehen würde, ob der Herr Professor wohl zufällig gerade einen auf Lager habe?
Professor Lundborg und seine Assistenten beantworteten Allans Gegenfragen nicht, sondern machten sich Notizen und brummten etwas in sich hinein, und dann ließen sie ihn wieder in Frieden, manchmal sogar tagelang. Diese Tage verbrachte Allan dann mit unterschiedlichster Lektüre. Zum einen las er natürlich die Tageszeitungen, zum andern aber auch Literatur aus der bemerkenswert umfangreichen Krankenhausbibliothek. Dazu kamen noch drei Mahlzeiten täglich, eine Toilette im Haus und ein eigenes Zimmer – Allan fühlte sich wohl in seiner Zwangsbetreuung. Nur einmal wurde die Stimmung getrübt, als Allan nämlich den Professor neugierig fragte, was denn eigentlich so schlimm daran sei, wenn einer Neger oder Jude war. Da antwortete der Professor ausnahmsweise nicht mit Schweigen, sondern brüllte, dass Herr Karlsson sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern und sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute mischen solle. Die Situation erinnerte Allan ein wenig an die, in der ihm seine Mutter damals mit einer Ohrfeige gedroht hatte.
Die Jahre gingen ins Land, und die Befragungen wurden immer seltener. Dann gab der Reichstag eine Untersuchung zur Sterilisierung »biologisch minderwertiger Personen« in Auftrag, und als der Bericht veröffentlicht wurde, verschaffte er Professor Lundborgs Tätigkeit einen solchen Aufschwung, dass Allans Bett von anderen benötigt wurde. Im Frühsommer 1929 wurde Allan also für rehabilitiert erklärt und auf die Straße gesetzt. Man drückte ihm ein Taschengeld in die Hand, das mit knapper Not für den Zug nach Flen reichte. Die letzten zehn Kilometer nach Yxhult musste er zu Fuß gehen, aber das machte Allan nichts aus. Nach vier Jahren hinter Schloss und Riegel musste er sich auch mal wieder die Beine vertreten.
5. KAPITEL Montag, 2. Mai 2005
Im Handumdrehen stand die Nachricht von dem alten Mann, der sich an seinem hundertsten Geburtstag in Luft aufgelöst hatte, auf der Titelseite der Lokalzeitung. Da die Reporterin ganz ausgehungert nach echten Neuigkeiten aus der Gegend war, hatte sie hinzugefügt, dass eine Entführung nicht auszuschließen sei. Der Hundertjährige war laut Zeugen geistig völlig klar, er konnte sich also nicht einfach verlaufen haben.
An seinem hundertsten Geburtstag zu verschwinden, ist ja nun wirklich etwas Außergewöhnliches. Das Lokalradio stieg ebenfalls darauf ein, gefolgt von landesweiten Radiosendern, der schwedischen Nachrichtenagentur TT, den Onlineausgaben der wichtigsten Tageszeitungen sowie den Nachmittags- und Abendnachrichten im Fernsehen.
Der Polizei in Flen blieb nichts anderes übrig, als den Fall der Kriminalpolizei zu überlassen, welche zwei Funkstreifenwagen sowie einen Kriminalkommissar Aronsson in Zivil schickte. Diese bekamen bald Gesellschaft von diversen Reporterteams, die ihnen halfen, die ganze Gegend auf den Kopf zu stellen. Das ansehnliche Medienaufgebot nahm der Polizeipräsident zum Anlass, die Arbeit vor Ort höchstpersönlich zu leiten, in der Hoffnung, dabei vielleicht von irgendeiner Kamera gefilmt zu werden.
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