Gerhard Ebert
Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag
Report aus extraordinären Zeiten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Gerhard Ebert Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag Report aus extraordinären Zeiten Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Krieg
2. Cousin Gottfried fällt
3. Tante ausgebombt
4. Puppen und Pimpfe
5. Weiße Fahnen
6. Endlich Frieden
7. Schachmatt
8. Blitze aus heiterem Himmel
9. Schande, ein Deutscher zu sein
10. Kein Feuer, keine Kohle
11. Gründung einer Partei
12. Die Schülervertretung
13. Der erste Kuss
14. Die Solotänzerin
15. Wahlen der „Restdeutschen“
16. Kein Faible für Vaters Farbtöpfe
17. Eine neue „Flamme“
18. Träumen am Setzkasten
19. Finger von der Politik lassen
20. Wenigstens dem eigenen Gefühl vertrauen
21. Packesel der Nacht
22. Total unter Strom
23. Weltliebesfestspiele
24. Abstecher zur Film-Form in Westberlin
25. Bewerbung am Deutschen Theaterinstitut
26. Schon mal „Stallgeruch“
27. Druckerei-Besitzer?
28. Aufnahmeprüfung in Weimar
29. Das neue Leben
30. Es kommt auf die Sekunde an
31. Denken im Kollektiv
32. Ettersberg, Kino, Saufgelage
33. Immer noch allein
34. Theater am Schiffbauerdamm
35. Lesbe in der „Melodie“
36. Groteske, irre Gegensätze
37. Treffen mit einem Star
38. Pornographie
39. Sondersitzung im Theaterfoyer
40. Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“
41. Takt und Höflichkeit
42. Ich zeig dir meine Möbel
43. Die Karteileiche
44. Wärmflasche mit Ohren
45. Politischer Irrsinn vor Ort
46. Neugierig auf die Linienstraße
47. Mutters Verdacht
48. Damenwahl
49. Protest
50. Und dann ging alles sehr schnell
51. Stalin tot
52. Klassiker sterben nicht!
53. Siebzehnter Juni
54. Schlafen in Futterkrippen
55. Den Himmel beobachten
56. Kolchose machen?
57. Nackt unterm Rock
58. Sozialismus braucht Jahrhunderte
59. Mein Leipzig lob ich mir
60. Blamage in der Silvesternacht
61. Weinen vor Glück
62. Ein Bayer beim Volkskunstfestival
63. Intermezzo in der Muldental-Bahn
64. Einer Ohnmacht nahe
65. In guter Gesellschaft
66. Stets aus vollem Herzen
67. Eine heiße Pforte
68. Die Sache mit dem Überbau
69. Zwischen zwei Frauen
70. Zukunft in den Händen?
71. Gerichtstag
Impressum neobooks
Uwe hörte die Nachricht zunächst noch ungläubig im Radio. Immer wieder wurde sie wiederholt. Dazu Hitlers schnarrende, geradezu gewalttätige Stimme – mit ein paar Worten, die sich Uwe fürs ganze Leben einprägen sollten: „Seit heute Nacht wird zurückgeschossen!“ Dieses „Zurückgeschossen“ hallte wie ein Schuss im Raum. Es sollte heißen, begriff Uwe, dass nicht die Deutschen, sondern die Polen die Bösewichte seien. Offenbar hatte das irgendwie eine Bedeutung, wer den ersten Schuss abgegeben, wer also mit dem Krieg angefangen hatte. Angeblich also nicht Hitler.
Aber Krieg war Krieg! Was das für die Deutschen eigentlich bedeutete, konnte Uwe nicht im Entferntesten ermessen. Der Neunjährige hatte im Grunde keine Ahnung, nur vage Vorstellungen, alle entstanden aus Erzählungen seines Vaters über dessen Erlebnisse im 1.Weltkrieg. Beispielsweise hatten damals nachts im Schützengraben fürchterliche Metzeleien stattgefunden. Vater war als junger Mann mit gerade einmal achtzehn Jahren eingezogen und sofort an die Front in Frankreich transportiert worden. Nur dank der Erfahrung und Umsicht eines Kameraden, der des Nachts den Feind hatte heran kriechen hören, war er damals davon gekommen. Sie hatten den Franzmann ins leere Schützenloch springen lassen und dann von oben hineingeschossen. Vater erzählte das böse Erlebnis scheinbar gern. Was allerdings irgendwie befremdlich war. Uwe war stets unangenehm berührt. Wie konnte man solch entsetzliches Ereignis aus dem Krieg immer wieder als Lebensbonmot feilbieten! Zumal Vater damals wenig später am Fuß verwundet worden war. Eine Granate hatte eine Ferse arg zugerichtet.
Krieg also! Aufmerksam registrierte Uwe, wie die Menschen reagierten. Tante Luise lamentierte. Auch sie hatte den 1.Weltkrieg erlebt und in gar nicht guter Erinnerung. Eine Hungersnot stünde bevor, klagte sie, und bald würden in der Zeitung die vielen, vielen Todesanzeigen stehen. Mutter schien besonders betroffen. Sie zuckte immer wieder völlig ratlos mit den Schultern und barmte, als ginge die Welt unter.
Als Vater an diesem Tage endlich von der Arbeit nach Hause kam, hatte er offenbar noch einen kurzen Besuch in einer Kneipe gemacht, jedenfalls schien er leicht betrunken. Mutter wagte keine Äußerung, nicht einmal, dass sie ihn vorwurfsvoll anblickte. Offenbar hing Vaters Verhalten mit der Kriegs-Nachricht zusammen. Oder? Uwe war zu neugierig.
„Weißt du schon...?“ fragte er schließlich, kam aber nicht bis zum Ende.
„Lass Vati in Ruhe!“ herrschte Mutter ihn sofort an.
„Hol Bier!“ sagte Vater und drückte ihm den Krug in die Hand. Er schien irgendwie innerlich zu beben, zu zittern, empfand Uwe. Er schwieg, griff zu Krug und Geld und machte sich still auf den Weg zum Gasthaus um die Ecke, wo er gelegentlich für Vater Bier holte und dort, eh der Wirt einschenkte, gern ein bisschen zusah, wenn Gäste Billard spielten. Jetzt war Ruhe, niemand in der Gaststätte. Der Wirt nahm sich Zeit an seinem Zapfer.
„Wie geht’s deinem Vater? Muss er los?“ fragte er plötzlich, während das Bier in den Krug lief.
Uwe erstarrte. Noch eben auf dem kurzen Weg zur Kneipe hatte er gedacht, dass ihn das alles eigentlich wenig angehe. Weil: Für die Soldaten war er nun wirklich zu jung mit seinen neun Jahren. Und der Krieg, so böse er auch sein mochte, musste sich irgendwo in der Ferne abspielen, denn alle Landesgrenzen, wie Uwe schnell anhand einer Karte eruiert hatte, befanden sich im Osten wie im Westen sehr weit weg von seiner Heimatstadt Glauchau. Jetzt diese Frage! Uwe stotterte betroffen, dass er keine Ahnung habe und eilte los. Zu Hause trank Vater sein Bier und untersagte, das Radio einzuschalten. Dann schickte er die Kinder ins Bett. Mutter nahm stumm Bruder Karl an die Hand. Uwe wagte keine Widerrede. Ratlos schaute er Vater an, als er „Gute Nacht“ zu ihm sagte.
„Schon gut!“ erwiderte der und drehte sich ab.
In seiner Kammer und im Bett angekommen, dämmerte es Uwe: Er war sehr wohl betroffen! Und zwar sein Vater. Der war jetzt wahrscheinlich das berühmte „Kanonenfutter“, von dem manchmal vielsagend die Rede war, wenn die Männer beim Bier protzig über ihre Kriegszeit sprachen.
In der Tat. Kaum zwei, drei Tage nach der Kriegserklärung flatterte ein Brief ins Haus, ein Gestellungsbefehl, mit dem Vater aufgefordert wurde, sich am nächsten Tag morgens um neun Uhr mit dem nötigsten Gepäck auf dem Chemnitzer Platz einzufinden. Dieser weiträumige Platz mit Verkehrsinsel und Geschäften ringsum befand sich fast vor ihrer Haustür, nur kurz um die Ecke.
Dorthin zog die Familie am nächsten Morgen zu festgelegter Zeit, um den Vater zu verabschieden, der seit gestern noch wortkarger gewesen war. Und wenn er gesprochen hatte, hatte er immer wieder unvermindert fassungslos wiederholt, dass er doch schon im 1.Weltkrieg seine Knochen fürs Vaterland hingehalten habe und jetzt viel zu alt sei fürs Kriegsspielen. Nur einmal hatte er sehr leise gesprochen, was offenbar nur für Mutter bestimmt, von Uwe dennoch aufgeschnappt worden war. Er werde nicht lange herum marschieren, hatte Vater gesagt, er wüsste schon, wie er sich verhalten müsse. Was er damit gemeint hatte, erfuhr Uwe erst ein gutes Jahr später.
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