Als das Gerüst an der Rückwand des Wäschebodens Gestalt annahm, und für Mutter und Bruder auch schon mal ein Marionetten-Skelett über die künftige Bühne spazierte, was von beiden mit entzücktem Ah und Oh quittiert wurde, meinte Tante Betty plötzlich animiert, dass unbedingt auch Musik dazu gehöre. Sie erklärte sich bereit, eine Anzeige aufzugeben, um an irgendein altes Grammophon heranzukommen. Gesagt, getan. Schon nach wenigen Tagen hielt die Tante ein Angebot in der Hand. Irgendwer bot für fünf Mark ein altes Grammophon an. Tante überlegte nicht lange und holte das Ding mit einem Taxi herbei. Sie brachte sogar ein paar uralte Schallplatten mit. Die Freude war groß. Alle lauschten gespannt dem ersten Versuch. Irgendwie aber klang alles merkwürdig. Hatten sie etwa nicht die richtigen Nadeln als Tonabnehmer? Bald war klar, warum nur fünf Mark verlangt worden waren: Der Teller mit der Schallplatte drehte sich viel zu schnell! Was im Tontrichter wie eine Frau quäkte, war eigentlich ein Mann. Der Lauf der Platten ließ sich partout nicht langsamer regulieren. "Musik ist Musik", sagte Tante schließlich sarkastisch, alle Kritik von sich weisend. Immerhin: Für putzige Unterhaltung des Publikums vor Beginn einer Vorstellung und auch während notwendiger Pausen war bestens gesorgt.
Was die Bekleidung der Marionetten betraf, entpuppte sich Tante Betty als wahre Zauberin. Wie sie die nüchternen Holz- und Drahtgestelle laut Personenzettel mit einfachsten Mitteln phantasievoll ausstaffierte, war verblüffend. Der Faustus schien wirklich ein ernsthafter alter Gelehrter, und Mephistopheles glänzte in seinem feuerroten Kostüm mit weitem Stehkragen echt gefährlich. Wobei gesagt sein muss, dass Uwe dem Höllenfürsten zwei unübersehbare Hörner verpasst und den Kopf außerdem rabenschwarz angemalt hatte. Kasper hatte eine Zipfelmütze mit eigenem Faden, so dass die sich bei besonderer Gelegenheit aufrichten ließ, zum Beispiel in gefährlicher Situation, wenn sich dem Kasper vor Angst gewissermaßen die Haare sträubten. Das versprach, lustig zu werden.
Endlich eines schönen Tages war das Figuren-Ensemble komplett, und die Bühne bespielbar. Also begannen die Proben. Uwe und Tante Betty standen stundenlang auf schmalem Brett, beugten sich über eine kleine Reling und übten. Die Marionetten, die gerade nicht an der Reihe waren, hingen greifbar hinter ihnen an der Wand. Es war schon ganz schön schwierig, mit Daumen und kleinem Finger den Steg, an dem die Marionette befestigt war, immer so zu halten, dass sie knapp über dem Bühnenboden stand, und obendrein auch noch mit Zeige- und Mittelfinger den vorn am Steg beweglich quer befestigten Bügel, von dem Fäden zu den Füßen verliefen, so zu bewegen, dass die Marionette ihre Beine hob und lief.
Uwes Bruder Karl, der gern zuschaute, monierte immer wieder, dass die Figuren wie Geister schwebten, statt wie Menschen zu gehen. Aber mit Geduld gelang die Lauferei immer besser. Das zu meisternde Problem war, dass man nach unten blicken musste, um zu sehen, dass die Figur wirklich auf dem Boden stand und ging, dass man aber auch zum Text schauen musste, um just die Zeile auszuspähen, die gerade laut abzulesen war. Aber Übung macht bekanntlich den Meister. Mit der Zeit kannten beide Spieler bestimmte Textstellen ein bisschen auswendig und konnten sich besser aufs Spiel konzentrieren.
Während der Proben geschah Unerwartetes. Anfangs hatte sich Uwe ganz auf seine Aufgaben konzentriert, aber eines Tages war ihm plötzlich bewusst geworden, dass er ab und zu mit seiner Tante körperlich Kontakt hatte. Einmal schien ihm sogar, dass sie ihren Hintern absichtlich von der Seite ein wenig an ihn drückte. Gewiss war das ein Irrtum, aber immerhin ungeheuer aufregend. Er versuchte herauszubekommen, ob sie etwa tatsächlich unauffällig die Nähe suchte. Schließlich hatte sie keinen Mann, und er war doch irgendwie auf dem Wege. Als ihm klar wurde, dass sie leider nur zufällig, eben im Spiel, seine Seite berührte, nahm er sich vor, immer eng bei ihr zu bleiben, um ihren Körper ab und zu spüren zu können. In ihm wallte da stets etwas auf, was er nicht definieren konnte, was aber verdammt angenehm war. Wie gewaltig erregend musste das sein, wenn sich wirklich Haut mit Haut berührte, ohne irgendeinen Stoff dazwischen.
Ganz und gar aus dem Häuschen geriet Uwe, als er wenig später unerwartet und ganz nah Tantes splitternackte Brüste zu sehen bekam. Sie probierte immer mit Leidenschaft, weshalb sie stets ins Schwitzen kam. Deswegen erschien sie eines Tages nur mit losem Turnhemd bekleidet, das offenbar ein, zwei Nummern zu groß war. Jedes Mal jedenfalls, wenn sie sich nach vorn beugte, was oft nötig war, gab sie unfreiwillig Uwe den Blick frei auf ihre runden, jetzt glockig hängenden Brüste. Ein umwerfender Anblick. Uwe verschlug es den Atem. Beinahe hätte er sich verraten, aber es gelang ihm, seine urplötzlich aufwallende Erregung zu verbergen.
Nun nutzte er jede sich bietende Gelegenheit, unauffällig nach nebenan und auf Tantes Brüste zu schielen. Prompt war er abgelenkt, und Tante meckerte. Uwe hoffte, sie habe nicht mitbekommen, warum er aus dem Tritt gekommen war. Aber leider hatte sie offenbar mehr begriffen, als ihm lieb war. Zur nächsten Probe nämlich ließ sie Uwe keine Chance mehr. Ihm schien sogar, dass sie jetzt deutlich vermied, mit ihm in körperlichen Kontakt zu geraten. Was blieb, war die Erinnerung an ein aufregendes erotisches Intermezzo.
Die erste Vorstellung war eine Familiengala. Die ganze bucklige Verwandtschaft war erschienen, sogar der nun schon über siebzig Jahre alte Opa Alfred, mit dem Uwe in Bremen gewesen war, und Tante Else, die um ihren Sohn trauerte. Am meisten Furore machte der Kasper, nicht nur mit seiner Zipfelmütze. Allen gefiel, wie er mit lautem "Perlicke" und "Perlacke" den Mephistopheles herbeizitierte, bei dessen Erscheinen Tante Betty auf ein ausgedientes Kuchenblech klopfte und Uwe die Lampen wetterleuchten ließ. Das machte so viel Effekt, dass Faustens Schicksal gar nicht mehr so wichtig war. Und Kasper als Nachtwächter mit seinem Slogan "Hört ihr Leute, lasst euch sagen, die Glocke hat jetzt zwölf geschlagen" avancierte geradezu zum Liebling des Publikums.
Die Familie war sich einig, dass Uwe und Tante Betty ganze Arbeit geleistet hatten. Beklagt wurde nur, dass beide viel zu schnell gesprochen hätten, weswegen das Spiel leider eigentlich viel zu kurz gewesen sei. Nun gut, das ließ sich abändern. Die frisch gebackenen Künstler versprachen Besserung. Was sich freilich nur in einer nächsten Vorstellung würde zeigen lassen.
So wurde die Idee geboren, schon am nächsten Tag in der Straße, angefangen bei den Nachbarn, von Haus zu Haus zu gehen und alle Kinder zu einer Vorstellung einzuladen. Die Resonanz war unerwartet groß. Irgendwie hatte sich bereits herumgesprochen, dass sich bei Uwe auf dem Wäscheboden der Teufel höchstpersönlich blicken ließ. Man wollte das auf gar keinen Fall verpassen. Und zur Freude der beiden Puppenspieler fanden sich nicht nur Kinder, sondern auch deren neugierige Mütter ein.
Bei der ersten Teufels-Erscheinung gab es unerwartet Geschrei im Publikum. Ein zu nah sitzendes Mädchen hatte die Sache zu ernst genommen, weswegen der Vorhang fallen und die verängstigte Kleine erst einmal beruhigt werden musste. Aber danach war die Spannung im Raum so groß, dass am Ende niemand nach Hause gehen wollte und alle wünschten, dass der Kasper noch einmal von vorn beginnt. Das war nun wirklich nicht vorgesehen, und Uwe, der ohnehin schon ganz heiser war vom vielen gezirkelten Sprechen, atmete auf, als Tante Betty den jungen Zuschauern liebevoll erklärte, Kasper sei jetzt müde und müsse schlafen. Sie schlug den Kindern vor, am nächsten Tag wiederzukommen und Freunde mitzubringen. Kasper sei dann gewiss wieder ganz fit, und auch der Teufel sei dann wahrscheinlich erneut bereit, sich herbeilocken zu lassen. Derlei Aussicht auf erneute Gruselei stimmte froh. Sogar die anwesenden Muttis versprachen, die Werbetrommel zu rühren. So etwas wie dieses Marionetten-Spiel gebe es nirgends sonst zu sehen, das dürfe man einfach nicht verpassen.
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