Für Allans Vater nahm das Ganze überdies eine persönliche Dimension an, da Lenin jegliches Privateigentum verboten hatte – genau einen Tag nachdem Allans Vater zwölf Quadratmeter erworben hatte, auf denen er schwedische Erdbeeren anbauen wollte. »Der Boden hat zwar nur vier Rubel gekostet, aber mein Erdbeerfeld verstaatlicht man mir nicht ungestraft!«, schrieb Allans Vater in seinem allerletzten Brief in die Heimat. Und er schloss mit den Worten: »Jetzt ist Krieg!«
Ja, Krieg war zweifellos. So gut wie überall auf der Welt, und das schon seit ein paar Jahren. Er war ausgebrochen, kurz nachdem der kleine Allan seine Stelle als Laufbursche bei der Nitroglycerinfabrik bekommen hatte. Während der Junge die Dynamitkartons auf die Wägen lud, lauschte er den Kommentaren der Arbeiter zum Weltgeschehen. Er fragte sich immer, woher sie das alles wussten, aber vor allem wunderte er sich, wie viel Elend erwachsene Männer so anrichten konnten. Österreich erklärte Serbien den Krieg. Deutschland erklärte Russland den Krieg. Dann nahm Deutschland innerhalb eines Nachmittags Luxemburg ein, um anschließend Frankreich den Krieg zu erklären. Daraufhin erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg, und die Deutschen reagierten, indem sie Belgien den Krieg erklärten. Da erklärte Österreich Russland den Krieg und Serbien Deutschland.
So ging es seitdem ununterbrochen. Die Japaner mischten sich auch noch ein, und die Amerikaner ebenfalls. Die Briten nahmen aus irgendeinem Grund Bagdad ein und dann Jerusalem. Die Griechen und die Bulgaren begannen sich ebenfalls zu bekriegen, und dann musste der russische Zar abdanken, während die Araber Damaskus eroberten …
»Jetzt ist Krieg«, hatte der Vater geschrieben. Wenig später ließ einer von Lenins Handlangern Zar Nikolaj und seine ganze Familie hinrichten. Allan stellte fest, dass das Pech des Zaren wohl doch angehalten hatte.
Noch ein paar Wochen später schickte die schwedische Botschaft in Petrograd ein Telegramm nach Yxhult und teilte mit, dass Allans Vater tot war. Eigentlich war es nicht Sache des zuständigen Beamten, die Angelegenheit weiter auszuführen, aber vielleicht konnte er es sich einfach nicht verkneifen.
Nach seinen Angaben hatte Allans Vater ein Grundstück von zehn bis fünfzehn Quadratmetern eingezäunt und es zur unabhängigen Republik erklärt. Er hatte seinen Staat »Das richtige Russland« getauft und war bei dem Handgemenge gestorben, das entstand, als zwei Regierungssoldaten seinen Zaun einreißen wollten. Allans Vater hatte die Grenzen seines Landes mit bloßen Fäusten verteidigt und wollte partout nicht mit sich reden lassen. Schließlich wusste man sich keinen anderen Rat, als ihm eine Kugel zwischen die Augen zu verpassen, damit man den Abrissauftrag ausführen konnte.
»Hättest du dir nicht eine etwas weniger dämliche Todesart aussuchen können?«, meinte Allans Mutter zu diesem Botschaftstelegramm.
Sie hatte nie damit gerechnet, dass ihr Mann noch einmal heimkehren würde, aber in letzter Zeit hatte sie doch wieder darauf gehofft, weil sie es mit der Lunge hatte und nicht mehr den rechten Schwung zum Holzhacken aufbrachte. Doch nun stieß sie nur einen rasselnden Seufzer aus, und damit war das Kapitel Trauer für sie erledigt. Sie teilte Allan mit, dass die Dinge nun einmal waren, wie sie waren, und dass es eben immer so kommt, wie es kommt. Dann zerzauste sie ihrem Sohn zärtlich das Haar, bevor sie hinausging, um weiter Holz zu hacken.
Allan verstand nicht so recht, was die Mutter damit gemeint hatte. Aber er begriff, dass sein Vater tot war, seine Mutter Blut spuckte und der Krieg vorbei war. Mit seinen dreizehn Jahren wusste er schon sehr gut, wie man es knallen lassen konnte, indem man Nitroglycerin, Zellulosenitrat, Ammoniumnitrat, Natriumnitrat, Sägemehl, Dinitrobenzol und noch ein paar andere Zutaten zusammenmischte. Das konnte einem eines Tages sicher von Nutzen sein, dachte Allan und ging hinaus, um der Mutter mit dem Holzhacken zu helfen.
* * * *
Zwei Jahre später hatte Allans Mutter ausgehustet und kam ebenfalls in den eventuellen Himmel, in dem der Vater schon angekommen war. Auf der Schwelle ihrer Hütte stand jetzt ein mürrischer Großhändler und meinte, sie hätte zumindest noch ihre neuerlich aufgelaufenen Schulden in Höhe von 8,40 Kronen bezahlen können, bevor sie einfach unangekündigt starb. Allan hatte jedoch nicht vor, Gustavsson mehr als nötig zu mästen.
»Das muss der Herr Großhändler schon selbst mit meiner Mutter ausmachen. Möchten Sie sich vielleicht einen Spaten leihen?«
Der Großhändler war zwar Großhändler, aber körperlich eher klein geraten im Unterschied zum fünfzehnjährigen Allan. Der Junge war schon fast ein Mann, und wenn er nur halb so verrückt war wie sein Vater, konnte er auf alle möglichen dummen Gedanken kommen, dachte sich Großhändler Gustavsson. Weil er aber lieber noch eine Weile am Leben bleiben und sein Geld zählen wollte, wurden die Schulden nie wieder erwähnt.
Wie die Mutter mehrere hundert Kronen Erspartes zusammengescharrt hatte, war dem jungen Allan schier unbegreiflich. Doch das Geld war da, und es reichte für die Beerdigung der Mutter sowie als Startkapital für die Firma Dynamit-Karlsson. Bei ihrem Tod war der Junge zwar erst fünfzehn, aber in der Nitroglycerinfabrik hatte er alles Nötige gelernt.
Außerdem experimentierte er fleißig in der Kiesgrube hinter der Hütte – bei einer Gelegenheit gleich so fleißig, dass die zwei Kilometer entfernt grasende Kuh seines Nachbarn eine Fehlgeburt erlitt. Aber davon erfuhr Allan nie etwas, denn genau wie Großhändler Gustavsson hatte der Nachbar ein bisschen Angst vor dem womöglich genauso verrückten Sohn des verrückten Karlsson.
Sein Interesse für die Geschehnisse in Schweden und in der Welt hatte sich Allan aus seinen Tagen als Laufbursche bewahrt. Mindestens einmal pro Woche radelte er zur Bibliothek in Flen, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. Dort lernte er diskussionsfreudige junge Männer kennen, die Allan zu gern in ihre politischen Bewegungen gelockt hätten. Doch so sehr sich Allan für alles interessierte, was auf der Welt passierte, so wenig interessierte er sich dafür, selbst mitzumachen und Einfluss zu nehmen.
Seine Kindheit war ja in höchstem Maße politisch geprägt gewesen. Einerseits stammte er aus der Arbeiterklasse – anders kann man es wohl kaum nennen, wenn einer als Neunjähriger von der Schule abgeht, um eine Arbeit in der Fabrik anzunehmen. Andererseits respektierte er die Erinnerung an seinen Vater, und der hatte während seines allzu kurzen Lebens ja alles Mögliche geglaubt: Nachdem er sich zunächst an der Linken orientiert hatte, hatte er anschließend Zar Nikolaj verehrt, um zu guter Letzt sein Leben im Streit mit Vladimir Iljitsch Lenin zu lassen.
Die Mutter hingegen hatte zwischen ihren Hustenanfällen alle verflucht, die ihr einfielen – vom König bis zu den Bolschewiken, und dazu noch Ministerpräsident Hjalmar Branting, Großhändler Gustavsson und nicht zuletzt Allans Vater.
Allan selbst war alles andere als ein Dummkopf. Er war zwar nur drei Jahre zur Schule gegangen, aber das reichte ja vollauf, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Die politisch bewussten Arbeitskollegen in der Nitroglycerinfabrik hatten in ihm außerdem die Neugierde auf die Welt geweckt.
Was die Lebensphilosophie des jungen Allan jedoch auf immer prägte, waren die Worte, die seine Mutter gesagt hatte, als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes bekam. Es dauerte zwar eine Weile, bis sie ganz in das Bewusstsein des jungen Mannes eingesickert waren, aber dann stand dieser Satz dort für alle Zeiten:
Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt.
Dazu gehörte unter anderem auch, dass man kein großes Trara machte, zumindest nicht, wenn man Grund dazu hatte. Wie zum Beispiel, als die Nachricht vom Tod des Vaters die Hütte in Yxhult erreichte. Ganz im Sinne der Familientradition reagierte Allan, indem er Feuerholz hacken ging, wenn auch sehr lange und sehr schweigsam. Oder als die Mutter denselben Weg ging und zum Leichenwagen getragen wurde, der vor dem Haus wartete. Da stand Allan in der Küche und verfolgte das Schauspiel durchs Fenster. Ganz leise, sodass nur er es hören konnte, sagte er:
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